100 Jahre Mutterhaus: Heimat und Identifikationsort der Oberzeller Franziskanerinnen

Wenn Wände sprechen könnten, würden die steinernen Zeugen des Oberzeller Klostergebäudes wohl unentwegt quasseln. Sie würden erzählen von Mönchen und Soldaten, von Maschinen und Möbeln, von Pensionären und Priesterstudenten. Und sie würden plaudern über viele Ordensschwestern, die diese Mauern seit 100 Jahren als „Mutterhaus“ bezeichnen. Zwei von ihnen leben bereits seit über 60 Jahren hier. Auf die Frage, was das Mutterhaus für sie bedeutet, sagen Sr. Basildis Röder (82) und Sr. Erentrud Iselt (84) spontan das selbe Wort: „Heimat“.

1855 gründete die Würzburgerin Antonia Werr im sogenannten Oberzeller Schlösschen ihre Gemeinschaft sowie die „Rettungsanstalt für verwahrloste Frauen“. Noch im gleichen Jahr erwarb sie das ehemalige Wirtshaus oberhalb des Klosters (heute: Antoniushaus), das künftig als Erziehungsheim und Mutterhaus diente. 1901 kaufte die Kongregation auch das Konventgebäude sowie das restliche Gelände und begann eine umfangreiche Restaurierung, um das ehemals stattliche Prämonstratenserkloster wieder in seiner barocken Form glänzen zu lassen. Schon 1902 wurde das Haupthaus unter dem Namen „St. Norbertusheim“ als Erholungsheim für gutsituierte Pensionär*innen eingeweiht. Dank dieser Einnahmen konnten die Schwestern die Sanierung finanzieren und den Sendungsauftrag in ihren Einrichtungen fortführen. Da der Platz im Antoniushaus bald nicht mehr ausreichte, wurde das Erholungsheim schließlich am 1. November 1923 zum Mutterhaus.

1923: Mutter Bonaventura, damals Generaloberin der Gemeinschaft (gekennzeichnet mit dem X), mit einigen Schwestern in den Anlagen des neuen Mutterhauses. Foto: Archiv Kloster Oberzell
Das Bild des Einkleidungskurses vom Mai 1929 zeigt, wie viele Frauen sich damals für das Leben im Kloster entschieden. Foto: Archiv Kloster Oberzell

Die Gemeinschaft von Antonia Werr wuchs auch in den Folgejahren weiter an: Bis 1931 lebten mehr als 900 Schwestern in über 100 Filialen. Diese Blütezeit war gleichzeitig die dunkelste der Gemeinschaft: Als Sr. Baptista Nagel 1941 ihr Amt als Generaloberin übernahm, „verhüllten die Schatten des Zweiten Weltkrieges bereits beängstigend die Zukunft“, heißt es in der Chronik des Klosters. Wie schon zu früheren Kriegszeiten beherbergten die historischen Mauern auch diesmal verletzte Soldaten. Die Schwestern rückten im Mutterhaus, aber auch in den anderen Häusern eng zusammen. Von 1939 bis 1945 wurden in Oberzell über 1.500 Menschen aufgenommen: Geflüchtete aus Rumänien, der Ukraine und den baltischen Staaten, aber auch Bombengeschädigte aus Deutschland suchten Schutz im Kloster sowie Siedlungsdeutsche aus dem Osten und nach der Zerstörung Würzburgs auch Bischof Matthias Ehrenfried und sein Nachfolger Julius Döpfner samt Domkapitel und Ordinariat. Bis 1950 wurde das Kloster Oberzell damit zum Mittelpunkt der Diözese.

Viele Menschen begrüßen im Oktober 1948 den neuen Bischof Dr. Julius Döpfner, der im Kloster Oberzell lebt, bis die bischöfliche Wohnung in Würzburg wieder hergestellt ist. Foto: Archiv Kloster Oberzell

In den 1950er und 60er Jahren freute sich die Kongregation über hohe Eintrittszahlen, weiß Schwester Basildis Röder. Sie selbst trat 1957 ins Kloster ein. „Damals hat das Leben im Mutterhaus gebrummt“, verrät die 82-Jährige. „Wir waren fast nur junge Schwestern zwischen 20 und 50 Jahren und mussten in zwei Schichten essen, weil der Platz nicht für alle auf einmal gereicht hat.“ Auch Schwester Erentrud Iselt erinnert sich noch gut daran: Als sie 1962 nach Oberzell kam, lebten rund 100 Schwestern allein im Mutterhauskonvent. Als Novizin sei sie mit den anderen Frauen ihres Kurses streng isoliert gewesen, erzählt die 84-Jährige. „Mit den Profess-Schwestern durften wir nicht sprechen.“

Überhaupt habe sich das Zusammenleben im Konvent stark gewandelt, schildern die beiden Ordensfrauen. Vor allem bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil 1965 galten strengere Regeln für die Gemeinschaft. Sr. Basildis berichtet, dass es nicht erlaubt war die Mitschwestern zu duzen. Bei Tisch wurde geschwiegen, ebenso auf den Gängen und ab 21 Uhr war absolute Stille angeordnet. „Ich habe mal im Schlafzimmer gesprochen und musste dann als Buße das Fünf-Wunden-Gebet ausgestreckt beten“, verrät sie und grinst. „Das hab ich dann im Bett gemacht, weil ich nicht wollte, dass die anderen das in der Kirche sehen.“ Heute kann sie darüber lachen.

Bis vor dem Konzil gab es auch sogenannte Schuldkapitel: Die Schwestern sollten sich selbst öffentlich anklagen, wenn sie etwas falsch gemacht hatten. Trotzdem habe sie die Zeit damals nicht als Last empfunden, versichert Sr. Erentrud. „Wir haben uns ja selbst für diesen Weg entschieden und das waren nunmal die Regeln, die damals galten.“ Rückblickend sagt sie, diese Zeit sei auch schön gewesen, wenngleich ganz anders als heute. Die Gemeinschaft entwickelte sich nach dem Konzil gemeinsam weiter, das Zusammenleben wurde lockerer. Als die ersten weltlichen Mitarbeiter*innen eingestellt wurden und durch die Gänge im Mutterhaus liefen, habe man auch das Schweigegebot nicht mehr ganz so ernst genommen, sagt Schwester Erentrud und lacht.

Stark gewandelt habe sich auch die Wohnsituation der Schwestern, führen die beiden Ordensfrauen weiter aus. Sie waren damals beide in Dreier-Zimmern untergebracht. „Es gab aber auch einen Raum, den sich 17 Kandidatinnen teilen mussten“, so Schwester Basildis. „Fließend Wasser gab es nur an wenigen Stellen.“ Eine erste bauliche Veränderung ermöglichten die Schwestern aus den USA, die 1961 einen Aufzug für das Mutterhaus in Deutschland bezahlten. 1979 verkaufte die Kongregation landwirtschaftliche Flächen in Zell, um so eine Generalsanierung zu finanzieren. „Das war aber auch dringend nötig“, betont Schwester Basildis, die seit über 60 Jahren in der Verwaltung der Kongregation arbeitet. Die Zeit der Sanierung war anstrengend für alle Beteiligten: Die Schwestern mussten ständig umziehen, Mauern wurden durchbrochen, über 100 Arbeiter waren gleichzeitig vor Ort. Aber es hat sich gelohnt und die beiden Ordensfrauen, die seit über 60 Jahren im Mutterhaus leben, wünschen sich, dass das Haus auch künftig ein spiritueller Ort bleiben wird.

„Ich habe fast mein ganzes Leben im Mutterhaus gelebt und im Sekretariat und Archiv gearbeitet. Hier ist mein Zuhause.“

Sr. Erentrud Iselt (84)

 

 

 

„Im Mutterhaus habe ich die Sicherheit, dass ich ein geistliches Leben führen kann. Das war mir schon wichtig, als ich mit 16 Jahren hierher kam.“

 Sr. Basildis Röder (82)

 

Insgesamt gibt es heute noch rund 100 Oberzeller Franziskanerinnen in Deutschland, Südafrika und in den USA. 18 Schwestern wohnen aktuell in dem barocken Neumannbau auf dem Klostergelände. Mit den Ordensfrauen, die in den oberen Stockwerken ihre Zimmer haben, leben auch Mieter unter dem geschichtsträchtigen Dach. Darüber hinaus ist das Gebäude aber auch Arbeitsplatz für Mitarbeiter*innen und Rückzugsort für Gäste. Als Herzstück des Hauses bezeichnen viele Schwestern die Sakramentskapelle.

Die Kongregation sieht sich heute vor neue Herausforderungen gestellt. Die Gemeinschaft werde kleiner und auch das Mutterhaus sei inzwischen zu groß „für uns selbst“, betont Generaloberin Sr. Katharina Ganz. Die Kongregation versuche, leere Wohnungen kurzfristig zu vermieten, entwickele parallel dazu aber auch ein Konzept für das gesamte „Quartier Kloster Oberzell“. „Wir möchten, dass das Kloster Oberzell ein geistlicher Ort bleibt, an dem wir leben und wirken. Gleichzeitig öffnen wir uns weiter für andere Menschen, die dieses wunderschöne Areal mit uns teilen, verlebendigen und in die Zukunft führen.“ Genauso zuversichtlich ist auch Sr. Rut Gerlach, seit 2019 Oberin des Mutterhauskonventes. Denn: „Wie wir mit dem Blick in die Geschichte feststellen: Alleine haben wir das Haus auch in der Vergangenheit nie mit Leben gefüllt. Es war immer auch Platz für andere da.“ Letztlich sind es die Bewohner*innen, die einem Gebäude seine Seele schenken. Und die werden auch in Zukunft dafür sorgen, dass das Mutterhaus in Oberzell vor allem eines bleibt: eine Heimat.

Herzlich Willkommen im Mutterhaus! Sr. Rut Gerlach (links) und Sr. Erentrud Iselt freuen sich immer über neue Gäste in ihrem Zuhause. Foto: Daniel Peter

Hintergrund: Geplündert, zerstört und wieder aufgebaut

Für einen Prämonstratenserorden errichtet (1126), von aufständischen Bauern geplündert (1525) und von protestantischen Schweden zerstört (1631), wurde das Kloster Oberzell im 18. Jahrhundert von wenigen Ordenspriestern nicht nur wieder aufgebaut, sondern sogar zu neuem Glanz geführt. Von 1746 bis 1763 wurde das Haupthaus von Pater Sebald Appelmann umgebaut, die Pläne stammten vom berühmten Würzburger Hofbaumeister Balthasar Neumann. In die mit prächtigem Stuck verzierten Wände zogen 1796 nach der Schlacht bei Würzburg Soldaten ein: das Kloster wurde zum Lazarett für österreichische Truppen, 1801 wurden französische Soldaten einquartiert und am 4. Dezember 1802 wurde schließlich die Abtei Oberzell säkularisiert, der gesamte Klosterbesitz fiel an Max Joseph Kurfürst von Bayern.

In den Folgejahren wurde der historische Konventbau zu einer „Anstalt für Epileptiker und Geisteskranke“ (betrieben vom Juliusspital), ab 1812 erneut zum Militärhospital und nach weiteren Besitzerwechseln ab 1817 zum Industriegebäude der Druckmaschinenfabrik Koenig & Bauer. Im Deutschen Krieg 1866 stapften abermals Soldatenstiefel durch die historischen Flure: 1000 Mann mit 30 Offizieren wurden im Oberzeller Lazarett einquartiert.

Zwischenzeitlich hatte die Würzburgerin Antonia Werr 1855 im Schatten der Industrie das sogenannte Schlösschen gekauft und ihre Gemeinschaft sowie die „Rettungsanstalt für verwahrloste Frauen“ gegründet. 1901 erwarb die Kongregation zusätzlich das wieder leer stehende Konventgebäude sowie das restliche Gelände. 1902 wurde das Haupthaus unter dem Namen „St. Norbertusheim“ zunächst als Erholungsheim eingeweiht und schließlich am 1. November 1923 zum Mutterhaus ernannt.