Sticken gleicht Gottesdienst

Leser*innen des Romans begleiten Violet auf ihrem Weg zu einer selbstbewussten und eigenständigen Frau und erfahren dabei viel über die Lebenssituationen der Frauen in England in den 1930er Jahren.

England 1932: Violet Speedwell verlässt ihre tyrannische Mutter in Southampton im Alter von 38 Jahren und zieht nach Winchester, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Sie findet eine Anstellung als Schreibkraft in einem Versicherungsbüro und bezieht ein möbliertes Zimmer in einer Pension für ledige Frauen. Sie verdient so wenig, dass sie sich nur einmal in der Woche eine warme Mahlzeit leisten kann. Violets Verlobter ist im Krieg gefallen, ebenso wie ihr älterer Bruder, und sie macht sich keine Hoffnung mehr, selbst eine Familie gründen zu können.

Der Start ist nicht einfach für Violet. Das ändert sich, als sie in der Kathedrale von Winchester Frauen trifft, die farbenfrohe Knie- und Sitzkissen zur Ausschmückung des Gotteshauses sticken. Violet ist begeistert und lässt sich in die Kunst des Stickens einführen. Für sie ist das Sticken fast wie Meditation und bedeutet eine Auszeit aus ihrem bescheidenen Alltag. Die Frauen, so genannte Broderinnen, treffen sich jede Woche, und im Laufe der Zeit entwickeln sich Freundschaften, die Violet sehr gut tun, sie aber auch immer wieder fordern. Ebenso lernt sie den Glöckner Arthur kennen. Mit elf anderen Männern läutet er die zwölf Glocken der Kathedrale zu immer neuen Melodien. Dieses Wechselläuten beeindruckt Violet und dank Arthur wird sie in die Geheimnisse eingeweiht und darf selbst einmal eine Glocke erklingen lassen, was Frauen damals eigentlich nicht gestattet war. Auch Arthur selbst bleibt ihr nicht unwichtig…

Dieser historische Roman zeigt die Lebenssituation alleinstehender Frauen nach dem Ersten Weltkrieg auf. In Zeiten des Frauenüberschusses nach dem Krieg blieb ihnen oft nichts anderes übrig, als sich in Abhängigkeit zur Familie zu begeben und sich zum Beispiel um die Eltern zu kümmern. Tracy Chevalier gibt einen interessanten und informativen Rückblick in diese Zeit. Mit ihrer bildhaften Sprache beschreibt sie sehr anschaulich die Kathedrale, die Art des Stickens und die verwendeten Muster, das Wechselläuten der Glocken und Wanderungen durch die englische Landschaft. Man begleitet Violet auf ihrem Weg zu einer selbstbewussten und eigenständigen Frau und erfährt dabei auch viel über die Lebenssituationen der Frauen in der damaligen Zeit. Eine Frau war dazu bestimmt, zu heiraten, Kinder zu bekommen und den Haushalt zu führen. Violet rebelliert gegen die bestehenden Gesellschaftsnormen und setzt sich auch für ihre lesbischen Freundinnen ein. Homosexualität war damals ein Thema, das totgeschwiegen wurde und über das man sich nur hinter vorgehaltener Hand austauschte.

Tracy Chevalier schildert warmherzig, lebendig und lebensklug Violets Arbeitsumfeld, ihre Familie und die Menschen rund um die Kathedrale. Immer wieder muss man über die humorvollen Dialoge schmunzeln. Als Leser*in wird man fast Teil ihres Lebens und gewinnt die beschriebenen Personen lieb. Violet ist ein leiser Roman, geschrieben in einer wunderschönen mit feinem Humor durchsetzten Sprache, der auch deutlich macht, dass kleine Dinge zufrieden und das Leben lebenswert machen. Louisa Pesel, die Leiterin der Stickgruppe, gab es übrigens wirklich. Auch die gestickten Kissen kann man bis heute in der Kathedrale sehen. Selbst das Wechselläuten der Kirchenglocken wird in England noch immer praktiziert. Im Internet kann man sowohl die Kissen ansehen als auch das Läuten nachvollziehen.

Tracy Chevalier: Violet. Hoffmann und Campe Verlag 2020, 16 Euro.

Claudia Lüke