Kein Weihnachten in Moria

Die Corona-Pandemie zeigt, wie verletzlich wir sind. Mitten im Leben sind wir ständig von Risiken, Unglück, Scheitern oder Sterben umgeben. Davon schreibt Papst Franziskus in seiner neuen Enzyklika ‚Fratelli tutti‘.

Für einen Moment habe die Covid-19-Pandemie uns bewusst gemacht,dass wir als weltweite Gemeinschaft im selben Boot sitzen und die globale Tragödie uns allen zum Schaden gereicht. Keiner könne sich alleine retten. Der Sturm, der über das Boot gekommen sei, legt unsere Verwundbarkeit bloß und decke falsche und unnötige Gewissheiten auf, auf die wir gebaut hätten (FT 32). Dennoch sei die Versuchung groß, sich voneinander abzuwenden und abzugrenzen. Ablehnung von Migrant*innen, Missachtung der Menschenrechte, Wettrüsten statt Friedensgespräche, Nationalismus und Rassismus seien kein Weg, um globale Herausforderungen anzugehen, so der Papst. Die Pandemie erforderten wieder Klimawandel weltweite Lösungen. Sie gelängen nur, wenn die Menschheit zu einer neuen Geschwisterlichkeit und globalen Solidarität finde.

Flucht macht verletzlich
Die Pandemie oder andere globale Probleme können uns zwar alle treffen, sie wirken sich aber sehr unterschiedlich aus. Es gibt Menschen, die besonders verwundbar sind und andere, die sich besser schützen können. Im Rahmen einer Vortragsreihe der Domschule Würzburg haben Dr. Sabine Bauer-Amin (Wien) und ich uns über ‚Ankerzentren und andere Lager‘ ausgetauscht. Aus verschiedenen Blickwinkeln wollten wir die „gesellschaftliche UnSichtbarkeitvon Migration“ zeigen. Bauer-Aminer forscht am Institut für Sozialanthropologie interkulturell und interreligiös, inwiefern es im Kontext von Flucht zu einer erhöhten Verletzlichkeit (Vulnerabilität) kommt. Auf der Flucht steigt das Risiko von Verlusterfahrungen. Gleichzeitig ist die Fähigkeit erniedrigt, auf diese Krise angemessen reagieren zu können.

Menschenrechte – ein verletzbares Gut
Das Thema Migration verdeutlicht, dass die Menschenrechte als Errungenschaft unserer westlichen Kultur ein zugleich verletztes und verletzbares Gut sind. Menschen auf der Flucht haben ihr Zuhause aufgegeben, ihre Familie und Heimat hinter sich gelassen. In der Hoffnung auf ein besseres Leben riskieren sie ihre körperliche Unversehrtheit und nicht selten ihr Leben. Kinder, Frauen, Menschen mit gleichgeschlechtlicher sexueller Orientierung oder Menschen mit Behinderungen oder Beeinträchtigungen, etwa im Alter, sind besonders verwundbar. Zu schutzbedürftigen Gruppen gehören Geflüchtete und Asylsuchende genauso wie Menschen, die Folter, sexuelle oder andere Gewalt überlebt haben, sowie Opfer von Menschenhandel oder Menschen ohne Papiere.

Asylrecht verletzt zusätzlich
Zusätzlich tragen die rechtliche Situation in Europa, die Formen der Unterbringung in Lagern, Ankerzentren und anderen Gemeinschaftsunterkünften zu Verletzungen bei und wirken sichgesundheitsschädigend bis demütigend auf die Menschen aus. Die Verletzungsmacht (Vulneranz) zeigt sich daran, dass Menschen die Möglichkeit genommen wird, an ihrer Situation aktiv mitzuwirken. Sie erleben sich nicht mehr als handlungsmächtig, sondern sind einem System ausgeliefert, das sie nicht beeinflussen können. Zur Passivität und Nichterwerbstätigkeit gezwungen, werden Geflüchtete und Asylsuchende gesellschaftlich abgewertet. Während des Asylverfahrens, vor allem solange sie in Ankerzentren leben, dürfen die Menschen nicht arbeiten, selbst wenn sie wollten. Damit widersprechen sie den Erwartungen des Gastlandes, obwohl sie ihren Zustand gar nicht verursacht haben. Das erzeugt innere und äußere Spannungen, die krank machen oder zu Konflikten führen. Bei dem Interview vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), das ihren Asylantrag prüft, müssen die Menschen ihre Fluchtgründe genau erzählen. Dabei kommt es auf jedes Detail an. Menschen, die durch traumatisierende Situationen belastet sind, können sich aber nicht exakt oder nur unvollständig erinnern oder bringen Sachen durcheinander. Deshalb glaubt man ihnen oft nicht. Nur durch das Verdrängen oder Abspalten der furchtbaren Erlebnisse konnten sie Gewalt, Folter oder Kriegstraumata überhaupt überleben. Dass sie ihre leidvolle Geschichte bei Gerichtsverfahren oder vor Gutachtern wiederholen müssen, vermehrt ihre seelische Qual.

Unzumutbare Zustände
Eine Frau aus Westafrika und Mutter von drei Kindern schreibt über das Ankerzentrum in Geldersheim bei Schweinfurt: „Die Unterbringung ist ein Horror, denn wir leben mit fünf Frauen pro Zimmer, ohne jegliche Privatsphäre, mit einer sehr prekären sanitären Situation. Die Lebensbedingungen hier sind unmenschlich, zu viel Stress verbunden mit der Schwierigkeit für uns, in diesem ‚Gefängnis‘ zu leben, fast zwei Jahre lang, ohne etwas zu tun, ohne zu arbeiten, ohne die Möglichkeit zu studieren oder andere Aktivitäten auszuüben. Nachts wird mein Bett zu einem See aus Tränen, ich kann nicht schlafen, mein Appetit und mein Sinn für Humor sind verschwunden. Als alleinerziehende Mutter möchte ich das Beste für meine Kinder – ein Leben ohne Angst, wie alle Deutschen und Europäer. Einfach leben, leben und mit meinen Kindern bei null anfangen.“ Der vollständige Text ist erschienen auf www.anker-watch.de, der Vereinigung die der Bayerische und der Münchner Flüchtlingsrat zusammen mit anderen Organisationen gegründet haben, um Einblick in die Lebenssituation der Menschen in Ankerzentren zu geben, den Menschen dort eine Stimme zu geben sowie in der Öffentlichkeit auf ihre Situation aufmerksam zu machen.

Anruf an die Politik
Noch katastrophaler sind die Bedingungen in den Flüchtlingslagern auf der griechischen Insel Lesbos. Unter der Überschrift ‚Kein Weihnachten in Moria‘ und auf der gleichnamigen Aktionswebseite https://kein-weihnachten-in-moria.de/ weist der Franziskaner Bruder Stefan Federbusch darauf hin, dass es dort „keine winterfesten Unterkünfte, kein fließendes Wasser, keine Möglichkeit zur Reinigung der Kleider, unzureichende sanitäre Anlagen, eine mangelhafte Ernährung und fehlende medizinische Hilfsmöglichkeiten“ gibt. „Als Schwestern und Brüder der Franziskanischen Familie unterstützen wir daher die Forderung, die Menschen aus Moria und den anderen Lagern nach Deutschland zu holen“, betont der Franziskaner. Der Jurist und Journalist der Süddeutschen Zeitung, Heribert Prantl, bringt es so auf den Punkt: „Das wirkliche Weihnachten ist in diesen Zeiten dann, wenn Flüchtlinge gerettet werden. Das wirkliche Weihnachten ist dann, wenn Flüchtlingskinder wieder sprechen, spielen und essen. Das wirkliche Weihnachten ist dann, wenn ‚Der Retter‘ wirklich kommt – und er nicht nur im Weihnachtslied besungen wird.“

Sr. Katharina Ganz