Die Ideengeberin gab Halt, Rückendeckung, Beistand und Orientierung

„Wo ich gehe – du! Wo ich stehe – du! Nur du, wieder du, immer du! Du, du, du!“

 

Diese Worte von Martin Buber fassen gut zusammen, womit sich Schwester Agnella in ihren letzten Lebenswochen befasste. „Im Letzten geht es doch darum, in das große DU Gottes einzugehen und uns ganz auf dieses DU auszurichten“, sagte sie mir sinngemäß bei einem Krankenbesuch. Nur zwei Monate waren ihr vergönnt zwischen der Aufnahme ins Leopoldina-Krankenhaus in Schweinfurt und ihrem Sterbetag am 22. Mai im Antoniushaus. Sie nutzte diese Wochen intensiv, um Rückblick zu halten auf ihr Leben, ihrer Sehnsucht nach Gott nachzuspüren und Abschied zu nehmen von lieben Menschen.

Ihre Eltern Josef und Anna Kestler hatten ihr am 10. Mai 1941 das Leben geschenkt. Getauft auf den Namen Maria wuchs sie in Theilheim im Landkreis Schweinfurt auf. Sie war die sechste von sieben Geschwistern und hat sie alle überlebt. So hat sie sich in den letzten Jahren sehr mit Abschiednehmen und Trauer befasst. Mit Tod und Verlust war sie schon als Vierjährige konfrontiert worden, als ihr Vater 1945 bei einem Fliegerangriff starb. Von da an musste ihre Mutter allein für die große Familie sorgen.

„Himmel – du, Erde – du, oben – du, unten – du. Nur du, wieder du, immer du! Du, du, du!“

Das wichtigste Ereignis ihrer Kindheit war für Maria ihre Erstkommunion. Sie hatte eine tiefe Sehnsucht mit Jesus eins zu werden und mit ihm verbunden zu sein. Diese Sehnsucht trug sie ihr Leben lang in sich. Es bedeutete ihr viel, dass die Krankenhausseelsorger ihr in Schweinfurt die Kommunion brachten und ein Kreuz aus Olivenholz, das sie in die Hand nehmen konnte. „Ich lege alles auf IHN“, sagte sie. „ER hat jetzt die Führung übernommen.“

Durch ihre Tante, die ebenfalls bei uns im Kloster war, kam sie nach der Volksschule nach Oberzell, besuchte hier die Realschule, anschließend die Frauenfachschule für Handarbeit und Hauswirtschaft in St. Hildegard in Würzburg und den pädagogischen Lehrgang. Im Mai 1962 wurde Maria ins Noviziat aufgenommen. Als Ordensnamen erhielt sie zusätzlich zu ihrem Taufnamen den Namen ihrer inzwischen verstorbenen Tante: Schwester Maria Agnella. 1964 legte sie die zeitliche Profess ab und 1967 die Profess auf Lebenszeit.

In Freiburg im Breisgau studierte Schwester Agnella Sozialarbeit. Später qualifizierte sie sich weiter zur Supervisorin und Einrichtungsleiterin. Ihr apostolischer Einsatz führte sie 1968 nach St. Ludwig bei Wipfeld im Landkreis Schweinfurt. Zunächst war sie im damaligen Mädchenheim 13 Jahre Gruppenleiterin, dann zwei Jahre Erziehungsleiterin. Im Mai 1983 übernahm sie die Gesamtleitung. Diese Verantwortung übte sie 30 Jahre lang aus. In diesen drei Jahrzehnten wurde die Einrichtung kontinuierlich zum heilpädagogisch-therapeutischen Jugendhilfezentrum ausgebaut und von 1997 an sechs Jahre lang total um- und neugebaut. Beim Raumkonzept legte Sr. Agnella Wert auf die Gestaltung eines menschlichen Milieus, das die heilpädagogische Arbeit unterstützt.

Mitschwester und Kollegin, geistliche Leiterin, Chefin und Vorgesetzte, Ratgeberin und Freundin

Sr. Agnella war Mitschwester und Kollegin, geistliche Leiterin, Chefin und Vorgesetzte, Ratgeberin und Freundin. Für viele Menschen wurde sie zur Vertrauten. Sie war Visionärin und Vorbild. Mit ihrem ganzen Sein, ihrer feinen Art und geradlinigen Persönlichkeit verkörperte sie glaubwürdig das Charisma und den Sendungsauftrag unserer Kongregation.

Zusammen mit Alfred Hußlein initiierte sie 1995 den Förderkreis für das Antonia-Werr-Zentrum (AWZ) und war zusammen mit Jutta Leitherer dessen wichtigste Werbeträgerin. 2009 gründete sie den LuiRat (Heimrat). Nun durften die Mädchen maßgeblich „mitreden“. Sie sollten teilhaben an einem sicheren, friedvollen und geborgenen Zusammenleben. Bis zuletzt war sie Mitglied in diesem Gremium und hatte als Oberin des Schwesternkonventes das Wohl aller hier lebenden und arbeitenden Menschen, also der ganzen Haus- und Dienstgemeinschaft im Blick.

Sr. Agnella engagierte sich in der Vertreterversammlung des Diözesancaritasverbandes und war 20 Jahre lang im Vorstand der Arbeitsgemeinschaft katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfe und der Jugendsozialarbeit (AGkE) und Mitglied des Vorstandes des Landesverbandes Bayern (LVkE). Darüber hinaus war sie auch im Bundesverband engagiert. Bis zuletzt nahm sie an der jährlichen Gesellschafter*innenversammlung und der Förderstiftung zugunsten des AWZ bei der Sparkasse Schweinfurt-Haßberge teil. Für ihren unermüdlichen Einsatz in der Mädchen- und Frauensozialarbeit erhielt sie die Ehrenurkunde des Landkreises Schweinfurt, das Ehrenzeichen der Caritas in Gold, den Bayerischen Verdienstorden sowie das Bundesverdienstkreuz. Persönlich hat sie sich auf solche Ehrungen freilich nicht viel eingebildet.

Wertschätzung, Anteilnahme und Achtung

Vielmehr lag Sr. Agnella jedes einzelne der im AWZ betreuten Mädchen und jungen Frauen am Herzen. Sie standen immer im Mittelpunkt ihres Handelns. Sie ließ sich von deren lebensgeschichtlichen Belastungen, traumatisierenden Erfahrungen und ihrer Lebenswirklichkeit berühren. Gleichzeitig glaubte sie an ihre Fähigkeiten und unentdeckten Qualitäten, aus denen neues Selbstbewusstsein wachsen kann. Mit hoher Wertschätzung, Anteilnahme und Achtung begegnete sie jedem Mädchen, jeder jungen Frau und allen Mitarbeitenden.

Sie folgte darin dem Beispiel Antonia Werrs, wie es die Stele hier am Grab unserer Gründerin ausdrückt: Sr. Agnella gab Stütze und Halt, Schutz und Rückendeckung, Beistand und Orientierung. Ihre eigene Kraft schöpfte sie aus ihrem Glauben, aus dem Blick nach oben und nach innen. Genauso wie aus der Gemeinschaft und der Verbundenheit mit anderen.

2001 und 2007 wählte das Generalkapitel Sr. Agnella zweimal zur Generalvikarin unserer Gemeinschaft und 2013 für weitere sechs Jahre zur Generalrätin. Als 2010 das Antonia-Werr-Zentrum in eine GmbH überführt wurde, wurde Schwester Agnella zur Geschäftsführerin ernannt. 2014 übergab sie diese Verantwortung an Anja Sauerer. Dass dieser Leitungswechsel so gut und in ihrem Sinne gelungen ist, hat sie sehr erleichtert und gefreut.

„Ergeht’s mir gut – du! Wenn’s weh mir tut – du! Nur du, wieder du, immer du! Du, du, du!“

Sr. Agnella lag es am Herzen, einen sicheren Ort für die Mädchen zu schaffen, an dem sie erfahren dürfen, dass ihre Würde trotz aller Verletzungen respektiert und geschützt wird; einen möglichst sicheren Ort, an dem ihre heilsame Entwicklung gefördert und mit ihren Sinnfragen in Resonanz gegangen wird. Auch Antonia Werr legte ein besonderes Augenmerk auf das unverschuldete Geschick, wollte in Liebe und Aufrichtigkeit handeln und heilende Begegnung ermöglichen. Damit gab die Gründerin schon im 19. Jahrhundert dem Konzept des guten Grundes eine Bedeutung. Aus dieser unwandelbaren Mitte heraus hat auch Sr. Agnella gelebt, sie bewahrt und sich davon berühren lassen – nicht zuletzt in ihrer Unternehmens- und Mitarbeiter*innenführung.

Nach ihrem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst im AWZ wurde Schwester Agnella 2014 zur Oberin des Schwesternkonvents ernannt. Eine Pause war ihr leider nicht vergönnt. Sie handelte überlegt und besonnen, konnte sich von Herzen freuen und bereitete anderen Freude. Sie lachte gerne und hatte Humor, hörte gut zu, richtete Menschen auf und sprach ihnen Mut zu. Sie suchte den Dialog und strahlte Autorität aus. Sie führte ohne große Worte. Am Tonfall ihres „Bitte!“ konnte man erahnen, wenn ihr etwas nicht passte. Auf Sr. Agnella war stets Verlass und sie hielt Wort.

Sie war Ideengeberin und setzte sie mit großer Beharrlichkeit um. Anderen gegenüber war sie großzügig und fürsorglich. Sie zeigte aber auch Grenzen auf und suchte nach Wegen, Kritik sachlich unter vier Augen anzubringen. In Teams war sie auf Ausgleich bedacht, versuchte zu vermitteln und das Positive in allem zu sehen. Sie achtete Menschen jeder Herkunft und Konfession, nahm Schicksale ernst, handelte weitsichtig und umsichtig. Situationen, in denen ihr dies nicht gelungen ist oder Menschen, mit denen sie sich schwerer tat, haben sie sehr beschäftigt.

Im Konvent sorgte sie für Ausflüge, die zum Zusammenhalt beitrugen und organisierte Feste im Franziskusgärtchen. Jahrzehntelang verbrachte sie ihre Urlaube zusammen mit Sr. Alfriedes, Sr. Edelhilde und Sr. Irmgard. Auch um ihre Familie hat sie sich sehr gesorgt. Pünktlichkeit war nicht ihre vorrangige Eigenschaft. Eigene Fehler verzieh sie sich nur schwer. Vermutlich war sie selbst ihre größte Kritikerin.

In den letzten Jahren hat sie noch einmal vieles innerlich verarbeitet und aufgearbeitet, was sie in den drei Jahrzehnten ihrer Leitungsverantwortung getragen und ertragen hat. Es letztlich vor Gott bringen und Gott anvertrauen zu können, hat ihr geholfen. Bis zuletzt übernahm sie Verantwortung für ihre Mitschwestern und war auf einen guten Kontakt zum Antonia-Werr-Zentrum bedacht, ohne sich in die Leitungsangelegenheiten einzumischen.

In der Gemeinschaft sowie in der Generalleitung gelang ihr ein schwerer Spagat: Sie vertrat selbstbewusst, überlegt und klug ihre eigene Position und war stets loyal der jeweiligen Generaloberin gegenüber. Politisch und kirchlich eher konservativ eingestellt, setzte sie sich kritisch mit Positionen auseinander, die die Menschenwürde verletzen.

„Wohin ich mich wende, an jedem Ende nur du, wieder du, immer du! Du, du, du!“

Es war berührend zu erleben, wie Sr. Agnella in den letzten Wochen bewusst Abschied nahm, noch einmal Verwandte traf und anrief, Besuch erhielt von ehemaligen Mitarbeitern oder wichtigen Lebensgefährtinnen und sich für vieles bedankt hat. Als ihre Krankheit schneller voranschritt und deutlich wurde, dass sie wohl nicht mehr nach St. Ludwig zurückkehren könnte, bat sie um die Krankensalbung. Sie starb am 22. Mai im Alter von 82 Jahren vor dem Sonnenaufgang beim ersten Erwachen der Vögel.

Es war ein Montag, der Tag, in dem wir in der Kongregation besonders für die uns anvertrauten Mädchen und Frauen sowie für alle Mitarbeitenden in unseren Einrichtungen beten, in dem der Sendungsauftrag unserer Kongregation fortgeführt wird.

Dir, liebe Sr. Agnella, danken wir für Dein Lebens- und Glaubenszeugnis. Und wir wenden uns an das große DU Gottes, in dem Du, Sr. Agnella, wir alle und alles geborgen sind.

Sr. Katharina Ganz