Wie die Oberzeller Franziskanerinnen nach ihrem Vorbild Antonia Werr wirken

„Nennt Euch Dienerinnen“ – mit diesen wenigen Worten hielt Ordensgründerin Antonia Werr in ihrem Testament nicht nur den Namenswunsch für ihre Gemeinschaft fest. Sie unterstrich damit gleichzeitig den Kern, die Essenz ihrer Idee. „Wir verstehen uns als Dienst- und Glaubensgemeinschaft“ heißt es heute noch im Leitbild der Kongregation der Dienerinnen der heiligen Kindheit Jesu OSF. Und dieser Dienst gilt „der unzerstörbaren Würde des Menschen, vor allem Mädchen und Frauen in Not“.

Das Vorbild: Antonia Werr, geboren am 14. Dezember 1813 in Würzburg, am gleichen Tag wird ihr Vater beerdigt. Als jüngstes von acht Kindern pflegte sie ihre Mutter bis zu deren Tod 1841. Die junge Würzburgerin war gläubig, wollte etwas bewegen, erkannte aber, dass sie als Frau in der patriarchalen Kirche des 19. Jahrhunderts keine Rolle spielte. Sie ging nach Belgien, schloss sich den Schwestern vom Guten Hirten an. Doch fühlte sie sich hier nicht am rechten Platz. 1846 kehrte Antonia Werr enttäuscht nach Würzburg zurück. Aber: Sie gab nicht auf, sondern wurde immer entschlossener, ihren eigenen Plan zu verwirklichen. 1855 schließlich gründete sie die „Rettungsanstalt“ in Oberzell und wurde zu einer Vorreiterin in der Resozialisierung haftentlassener Frauen.

„Ein Leben, das nicht für andere gedient hat, ist ein Leben ohne Bedeutung.“
Mutter Teresa

Diese Entschlossenheit wünschte sie sich auch von ihren Mitschwestern, die bis heute nach ihrem Vorbild dienen. Mit „fester unverbrüchlicher Treue“ solle ihre Gemeinschaft an ihrem Namen festhalten, schrieb Antonia Werr in ihrem Testament. Sie verband franziskanische Spiritualität mit der Verehrung der Kindheit Jesu in der Menschwerdung Gottes. Dienen spielt bei beidem eine große Rolle. Franz von Assisi forderte von seinen Schwestern und Brüdern, dass sie „mit Treue und Hingabe dienen und arbeiten und keinen Lohn, außer das Nötigste“ erwarten sollen. In ihrer eigenen Lebensordnung betonte Antonia Werr, dass die Schwestern durch ihren Dienst Christus unter den Menschen gegenwärtig machen. Ihr apostolischer Einsatz gebe Antwort auf die Liebe Gottes, die ihnen unverdient und ständig neu zukomme. Alles was sie tun, soll Dienen sein.

„Dienen“ – ein Wort, das ganz unterschiedliche Assoziationen hervorrufen kann. Das althochdeutsche „dionôn“ wurde vom „dio“ abgeleitet, dem „Knecht“, der in früheren Zeiten seinem Herrn zu folgen hatte. Aus dieser abhängigen Stellung und Pflichterfüllung entwickelten sich aber im Laufe der Zeit auch positive Wortbedeutungen: sich einer Sache freiwillig unterordnen und für sie wirken, für etwas eintreten und für etwas bestimmt sein. Das lässt sich heute oft im freiwilligen Engagement im Rahmen eines Ehrenamts finden – Menschen leisten einen individuellen Beitrag zum Gemeinwohl. Für die junge Würzburger Ordensgründerin war es eine Lebenshaltung, es hatte nichts mit unterwürfig sein zu tun. Im Gegenteil: Antonia Werr war eine kluge, strategisch denkende Frau. Sie suchte sich Verbündete, handelte geschickt und diplomatisch, um ihr Ziel umzusetzen. Aus ihrem Glauben und den Nöten der Zeit heraus fühlte sie sich dazu verpflichtet, sich Frauen und Mädchen in Not anzunehmen.

„Wer anderen dient, gibt seinem Leben einen Sinn und eine Bedeutung.“
Albert Schweitzer

In der Mitte des 19. Jahrhunderts, als Antonia Werr beschloss, ihre Gemeinschaft als „Dienerinnen“ zu bezeichnen, genauer gesagt als „Kongregation der Dienerinnen der heiligen Kindheit Jesu vom Regulierten Dritten Orden des heiligen Franziskus“, entsprachen die Begrifflichkeiten dem damaligen Zeitgeist. Andere Gemeinschaften nannten sich „Schwestern vom guten Hirten“ oder „Kongregation der Schwestern des Erlösers“. Allerdings unterschied sich Antonia Werrs Gründungszweck von den zahlreichen anderen Kongregationen in Franken, die sich überwiegend in der Krankenpflege und Kindererziehung betätigten. Das Augenmerk der jungen Würzburgerin galt den Mädchen und Frauen, die straffällig bzw. in Not geraten waren und um die sich keiner kümmern wollte.

Gandhi, Mutter Teresa und Albert Schweizer – viele bekannte Persönlichkeiten sprachen im vergangenen Jahrhundert vom Dienen. Viktor Frankl, ein österreichischer Psychiater sowie Begründer der Logotherapie, kam zu dem Schluss: „Nicht das Glück, sondern das Dienen ist der wahre Sinn des Lebens“. Es drückt seine Überzeugung aus, dass der Sinn des Lebens nicht im Streben nach persönlichem materiellen Glück besteht, sondern darin, anderen zu dienen und einen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten. Auch heute leben die Oberzeller Schwestern im Sinne ihrer Gründerin und wirken gemäß ihres Sendungsauftrags in caritativen Bereichen: Sr. Juliana Seelmann als Krankenschwester in der Würzburger Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete, Sr. Antonia Drewes in der stationären Jugendhilfe im Antonia-Werr-Zentrum in St. Ludwig oder Sr. Beate Krug im Modellprojekt FrauenobdachPlus mit wohnungslosen Frauen. In den eigenen Einrichtungen der Kongregation führen zudem rund 300 Mitarbeitende die Gründungsidee fort.

Viele Schwestern dienen bis ins hohe Alter. Sie übernehmen vielfältige Aufgaben, helfen mit, wo sie können oder bekleiden Ehrenämter. Sr. Anna Bernhart (100) half noch mit 95 Jahren im Antoniushaus ihren Mitschwestern beim Essen. Sr. Aniana Schäflein (82) besucht Frauen in Krankenhäusern sowie auf Hospiz- und Palliativstationen. Sr. Vianney Schneider (83) packt in der Wäscherei und im Klostercafé mit an.

Antonia Werr war durchsetzungsfähig und willensstark, gleichzeitig ihr Leben lang kränklich und körperlich schwach, sie litt unter Migräne und Rheuma. Mit ihrem Projekt hatte sie sich in große Unsicherheit gewagt, gab ihre Selbstständigkeit auf und riskierte ihre finanzielle Absicherung. Sie trotzte allen Widrigkeiten. Ihr starker Glaube spendete ihr Trost, gab ihr Mut und Stärke. Die Frage, was ihnen denn Kraft gibt im mitunter anstrengenden Alltag, beantworten die Oberzeller Schwestern auch heute mit ihrem Glauben und der Liebe Gottes. Tagesstruktur und gemeinsame Gebetszeiten schaffen Pausen zum Auftanken, sorgen für Beständigkeit. Die Gemeinschaft gibt Rückhalt. Darüber hinaus stehen jeder Schwester neben Urlaub auch Zeit für Exerzitien und jeden Monat ein Tag der Stille zu. Ein Gleichgewicht zwischen Dienst und Selbstfürsorge ist auch für Ordensfrauen wichtig.

Wir haben vier Schwestern befragt:
Worauf fußt ihre eigene dienende Haltung?
Woher nehmen die Frauen jenseits des Rentenalters diese Kraft?
Und was bewundern sie an Antonia Werr?

Sr. Basildis Röder (81) arbeitete jahrzehntelang als Ökonomin in der Zentralverwaltung und hilft immer noch in der Buchhaltung mit, kümmert sich um Spendeneingänge und die persönlichen Dankesschreiben an die Spender*innen, macht Ordnung in der Registratur oder dichtet für ihre Mitschwestern oder Kolleginnen und Kollegen Lieder und Reime zu Geburtstagen und Jubiläen.

Was motiviert Dich zu dienen?
Ich diene gerne, ich wollte schon immer mit meiner Arbeit dem Ganzen dienen. Ich übernehme gerne Verantwortung, kann mit Zahlen umgehen, daher bin ich wohl jetzt schon seit 61 Jahren in der Verwaltung. Ich mag es, anderen eine Freude zu bereiten. Die Liebe zu Gott und den Mitmenschen motiviert mich. Mir ist die Nächstenliebe wichtig, aber auch, dass ich mich selber so annehme wie ich bin. Mein Weg ist der Humor, ich freue mich, wenn beim Gegenüber ein Lachen zurückkommt.

Wo findest Du Kraft?
Das Wichtigste im Leben sind die Begegnungen mit Gott im Gebet, in der Messe, in Exerzitien. Ich fühle mich in Gott geborgen, das gibt mir Kraft. Die Erfahrungen seiner Liebe sind das Glück des Lebens. Auch die geistliche Gemeinschaft, meine Mitschwestern sind eine Stütze und geben mir Halt. Die klösterliche Ordnung strukturiert mein Leben. Ich finde Ruhe im Mutterhaus, in meinem Arbeitszimmer mit toller Aussicht auf den Main. Ich entspanne gut, wenn ich Grimms-Märchen höre oder einen Film schaue.

Wofür bewunderst Du Antonia Werr?
Sie war eine geschäftstüchtige Frau, hat alles durchdacht und sich durch einen Misserfolg nicht unterkriegen lassen. Ihr Vermögen steckte sie komplett in ihre Vision und ihr Projekt, um ausgegrenzten Frauen zu helfen.

Sr. Norbertine Rüth (82): Die gelernte Schneidermeisterin und Heim- und Gruppenerzieherin wirkte 32 Jahre lang in St. Ludwig. Nach weiteren Stationen ist sie heute in der Näherei im Mutterhaus tätig. Sie bessert Röcke, Blusen und Hosen ihrer Mitschwestern aus und näht auch ab und zu neue Kleidung.

Was motiviert Dich zu dienen?
Ich habe mich bewusst dafür entschieden, in einen Orden zu gehen, um Gott zu dienen und mich in den Dienst der Menschen zu stellen. Das wollte ich von ganzem Herzen.

Wo findest Du Kraft?
Ich bin gern in der Natur, gehe spazieren. Auch das Lesen gibt mir Kraft. Ich lese viel, leihe mir gerne aus der Bücherei etwas aus. Ich lese jeden Tag Zeitung, um zu wissen, was los ist und für was ich beten kann. Wir beten jeden Tag gemeinsam im Konvent: 7.30 Uhr, 11.45 Uhr und 17.30 Uhr. Jedes Jahr besuche ich meine Geschwister im Spessart. Diese gemeinsame Zeit gibt mir auch viel.

Wofür bewunderst Du Antonia Werr?
Sie hat nie aufgegeben oder sich entmutigen lassen trotz aller Herausforderungen. Sie kümmerte sich um die Menschen, die auf der Straße lebten und die keiner haben wollte. Mir war bei meiner Arbeit in St. Ludwig immer wichtig, dass jedes Mädchen eine Ausbildung abschließt, bevor es geht. Wenn ein Mädchen alles hinwerfen wollte, habe ich versucht, es zu motivieren, nicht aufzugeben. Auch bewundere ich Antonia Werr dafür, dass sie immer die richtigen Leute an ihrer Seite gefunden hat, die ihr geholfen haben, ihre Vision zu verwirklichen.

Sr. Eusigna Schultes (84) arbeitete jahrzehntelang im Kindergarten. Heute ist sie für das Refektorium zuständig. Sie deckt die Tische, räumt ab, sorgt für hübsche Dekoration und sie hilft überall, wo sie gebraucht wird, wenn es die Zeit erlaubt.

Was motiviert Dich zu dienen?
Wie es in der Bibel über Jesus steht, dient er uns Menschen: „Ich bin gekommen, um zu dienen“. Jesus hat mich gerufen auch zu dienen. Und ich folge unserer Gründerin. Antonia Werr nannte ihre Gemeinschaft bewusst Dienerinnen und nicht Schwestern. Ihr war die Wiederherstellung der Würde jedes Menschen wichtig. Ich habe im Kindergarten mit den Kindern auch immer versucht so zu handeln, ich habe jedes Kind so angenommen, wie es ist, es nicht versucht zu ändern, sondern seine Stärken zu unterstützen. Dienen ist für mich eine Haltung. Ich diene und mache das, was gerade im Moment dran und wesentlich ist.

Wo findest Du Kraft?
Die Kraft gibt mir Gott durch seine Gegenwart – überall, wo er mir begegnet. Ich erfreue mich an den Kleinigkeiten, zum Beispiel an der Form eines Blattes oder einer Blüte. Ich darf mitwachsen wie die Natur. Aber auch in den Begegnungen mit Menschen begegnet mir Gott: im aufrechten, im gekrümmten, im suchenden, im kranken Menschen. Die Kraft wird mir immer wieder von Gott gegeben, er verlangt nicht mehr als ich geben kann. Darauf kann ich mich verlassen. Der Rucksack, den ich trage, ist nie schwerer als ich tragen kann. Solange ich die Kraft habe, versuche ich sie einzusetzen, so gut ich kann. Die Feier der hl. Eucharistie und die stille Anbetung in der Sakramentskapelle motivieren mich täglich. Dort bin ich in Verbindung mit Jesus, da kann ich ausruhen, da kann ich Kraft schöpfen. Zitate inspirieren mich: „Denn aus IHM, mit IHM und durch IHN geht alles“. Antonia Werr sagte: „Wer liebt, der läuft, der fliegt, dem ist kein Weg zu weit.“

Wofür bewunderst Du Antonia Werr?
Für ihre Wahrheitsliebe. Dies war ihr ein sehr wichtiger Wert so wie mir. Sie verfolgte ihre Überzeugungen mit Wahrhaftigkeit. Sie begegnete den Menschen unverfälscht, nahm sie so an, wie sie waren. Sie durften sich zeigen mit allem, was da war.

Sr. Hermosila Müller (88) arbeitete früher als Krankenschwester in der ambulanten Krankenpflege und später in der Sozialstation. Heute kümmert sie sich um die Gruft, den Schließdienst, die Blumen und die Beleuchtung und hilft auch täglich im Refektorium mit.

Was motiviert Dich zu dienen?
Ich diene Gott und den Menschen. Als Krankenschwester war ich immer für die Menschen da, die dienende Haltung ist mir zur Natur geworden.

Wo findest Du Kraft?
Der liebe Gott gibt mir die Kraft, diese will ich auch verwenden. Fast jeden Tag gehe ich zum Grab von Mutter Antonia und bete dort für unsere Mädchen und Frauen in der Fürsorge, für alle Mitarbeitenden und Mitschwestern. Mir ist die Heilige Messe wichtig. Ich bete das Gebet zu Ehren der heiligen fünf Wunden oder den Rosenkranz: Das gibt mir Kraft. Arbeit und Gebet im Wechsel und ein Spaziergang an der frischen Luft tun mir gut.

Wofür bewunderst Du Antonia Werr?
Für ihren unermüdlichen Einsatz für die Mädchen, die sonst auf der Straße hätten leben müssen. Sie kümmerte sich um die jungen Frauen, die nach ihrer Haft keiner haben wollte.