Sechs Jahre lang arbeitete Julia Scharnagl im Kinderheim der Oberzeller Schwestern in Südafrika. Anfang Juni kehrte sie mit ihrer Familie nach Deutschland zurück – alle drei halb Europäer, halb Afrikaner. Ehemann Daniel Scharnagl ist Journalist und Autor, er hat die Eindrücke und Erlebnisse nach der Rückkehr für uns festgehalten:
Als wir 2015 nach Südafrika aufbrachen, war die Welt noch eine andere: In Deutschland ahnte noch niemand etwas von einer Flüchtlingswelle, das Wort Brexit gab es nicht und Donald Trump war ein TV-Clown, den niemand ernst nahm. Auch von einem Corona-Virus, das die Welt über Jahre in Beschlag nehmen würde, wusste keiner etwas. Klar war nur, dass sich unser Leben verändern würde: Von der Münchner Innenstadt ins afrikanische Zululand, wo wir im Auftrag der Oberzeller Schwestern und der Entsendeorganisation AGIAMONDO im Kinderheim St. Joseph arbeiten würden.
Als wir am Flughafen Durban landeten, betraten wir zum ersten Mal afrikanisches Festland. Damals ahnten wir nicht, wie tief das Land der tausend Hügel schon bald in unsere Seele eingebrannt sein würde. Als wir zum ersten Mal nach Mbongolwane kamen, waren wir sofort fasziniert von dem, was die Schwestern über Jahrzehnte mitten in der afrikanischen Diaspora aufgebaut hatten: Ein Kinderheim und eine Missionsstation – und einen der wichtigsten Fixpunkte für die lokale Bevölkerung. Viele Menschen in der Gegend sind bettelarm, die Arbeitslosigkeit hoch und die Probleme allgegenwärtig. Trotzdem zog uns der Ort von Beginn an in seinen Bann.
„Aufregend, spannend, chaotisch“
Morgens, wenn die meisten der 30 Kinder im Kindergarten oder in der Schule sind, ist St. Joseph ein stiller Ort. Nur die Babys und Kleinkinder sind zuhause, zu Beginn unseres Einsatzes lebte auch ein schwerbehinderter Junge im Kinderheim. Nachmittags hält dann das Leben in St. Joseph Einzug, der Großteil der Betreuerinnen beginnt seine Schicht. Bis heute macht Julias Herz Purzelbäume, wenn die Kinder mit ihren Schultaschen in der Hand auf sie zustürmen und ein Knäuel aus Freude und Zuneigung bilden. Fast jedes Kind hat schlimme Dinge erlebt, Verwahrlosung, Missbrauch oder extreme Armut – und trotzdem steckt in jedem Einzelnen von ihnen riesige Lebensfreude. Das Kinderheim ist für sie eine Zuflucht in der Not, ein Ort, an dem sie Kind sein dürfen.
Julias Aufgabe bestand in den ersten Jahren darin, ein pädagogisches Konzept fürs Kinderheim zu entwickeln und Strukturen für die Mitarbeiter zu schaffen. „Ich musste oft erklären, wie wichtig das Konzept des Spielens für die Entwicklung der Kinder ist: Etwas basteln, ein Puzzle machen oder mit den Kindern auf den Spielplatz gehen“, sagt sie. Schon bald führte sie – gemeinsam mit dem lokalen Management und der Sozialarbeiterin – neue Schichtpläne ein, sorgte für regelmäßige Meetings der Belegschaft und half überall dort, wo Unterstützung nötig war. Dabei war morgens nie klar, welche Überraschungen der Tag bereithalten würde: Neuankömmlinge mit sichtbaren Wunden an Körper und Geist, Hausbesuche bei Familien, Gerichtsprozesse, die über die Zukunft eines Kindes entscheiden oder Besuche im nahegelegenen Krankenhaus, wo immer großes Chaos herrscht. „Ich habe dieses bunte Leben geliebt. Jeder Tag in Afrika ist anders, aufregend, spannend, chaotisch“, sagt Julia. Manchmal besuchte sie Eltern und erklärte ihnen den Umgang mit HIV-Medikamenten, begleitete ein Kind zur Beerdigung ihrer Mutter oder saß bei Schulfesten gemeinsam mit Eltern im Publikum. Als einzige Weiße wurde sie oft angestarrt oder angesprochen, meistens freundlich, manchmal aber auch unangenehm. Auch viele Mitarbeiter wussten zunächst nicht, was sie von der Frau aus Deutschland halten sollten; sie reagierten vorsichtig und zurückhaltend. Doch mit jedem Tag wuchs das Vertrauen – und schon bald konnte sie sich vor Arbeit und Anfragen kaum mehr retten. Ihr Zuluname lautet ntombikhona: Das Mädchen, das da ist!
„Eigentlich müssten wir Euch einen Schleier geben“
Auch ich wurde zum regelmäßigen Gast in Mbongolwane. Neben meinen Aufgaben als freier Journalist startete ich ein Computerprojekt für Jugendliche aus der Pfarrei Mbongolwane, das bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie im vergangenen Jahr erfolgreich lief. Ich brachte Telefon und Internet nach Mbongolwane, sorgte dafür, dass Computer, Drucker und Fernseher funktionierten und sprang ein, wenn etwas repariert werden musste. Einer der Höhepunkte war immer das Mittagessen mit den Schwestern, bei dem wir die Sprache isiZulu lernten und in die Geheimnisse afrikanischer Mythen eingeweiht wurden. Denn eines war immer klar: Die Holy Childhood Sisters, wie die Schwestern in der Umgebung genannt werden, sind nicht nur Franziskanerinnen, sondern auch stolze Zulufrauen, die tief in der Kultur ihrer Heimat verankert sind.
Gemeinsam mit einer jungen Schwester aus Südafrika baute ich Internetauftritte für die Projekte der Gemeinschaft und ermöglichte im Projekt mehr als hundert Jugendlichen und jungen Erwachsenen den ersten Umgang mit Computern. Bald gingen wir als Familie in den Konventen Eshowe und Mbongolwane ein und aus – und empfanden es als Privileg, das Leben einer religiösen Gemeinschaft von innen erleben zu dürfen. „Eigentlich müssten wir Euch einen Schleier geben, ihr gehört doch jetzt zu uns“, sagte mir eine deutsche Schwester in Eshowe nach einigen Jahren. Und tatsächlich fühlten wir uns als weltliche Botschafter dieser Gemeinschaft in Südafrika, ihrer Projekte, Werte und Ideale.
Third Culture Kid
Unser Sohn Lean war drei Jahre alt, als wir ihn zwei Tage nach unserer Ankunft zum ersten Mal in den Kindergarten der Holy Childhood School in Eshowe brachten. Heute geht er in die vierte Klasse. Auf den ersten Blick ist er ein südafrikanischer Junge aus dem Bilderbuch: Er spricht Englisch mit südafrikanischem Akzent, hat einen Haufen afrikanische Freunde, läuft den ganzen Tag barfuß und versteht das Zululand als seine Heimat.
Gemeinsam mit ihm haben wir nicht nur die Provinz KwaZulu-Natal, sondern das gesamte südliche Afrika bereist. Brennende Zuckerrohrfelder, Schlangen im Garten, Löwen und Leoparden im Nationalpark sind für ihn keine Besonderheit, genauso wie der Strand vor seiner Haustür.
Auch er hat die Besuche in Mbongolwane immer genossen, die Spielkameraden aus dem Kinderheim und die Schwestern, die ihn mit Kuchen fütterten. Er liebte unser Haus mit großem Garten und Kamin, und er hat nie den deutschen Winter mit Schnee und Eis vermisst, den er bislang nur aus Büchern kennt. Lean ist ein sogenanntes „Third Culture Kid“, das sein Leben lang Elemente aus zwei Kulturen in sich tragen wird, die sich zu einer dritten (Misch-)Kultur vereinigen. Mit der Rückkehr nach Deutschland hat für ihn und uns ein neuer Lebensabschnitt begonnen, in einem Land, das wir alle neu kennenlernen müssen.
Leider haben uns schon kurz nach unserer Rückkehr erschreckende Nachrichten erreicht. Nicht nur, dass die dritte Welle der Corona-Pandemie über Südafrika hereinbrach. Im Juli erlebte das Zululand über vier Tage hinweg die schlimmsten Unruhen der vergangenen Jahrzehnte: Einkaufszentren, Supermärkte und Lagerhäuser in den Provinzen Gauteng und KwaZulu-Natal wurden von wütenden Horden überrant, geplündert und teilweise bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Eshowe – bis vor kurzem unsere Heimatstadt – lag im Zentrum der Unruhen. Freunde, Bekannte und die Schwestern erlebten furchtbare Tage und Nächte der Angst, während wir via Social Media die Ereignisse aus dem sicheren Deutschland verfolgen mussten. Auslöser der Proteste war die Inhaftierung von Ex-Präsident Jacob Zuma, ein Zulu, der in der Nähe von Eshowe seinen Wohnort hat. Seit Jahren werden ihm hunderte Fälle von Korruption und sogar Vergewaltigung vorgeworfen.
Der nächste Neuanfang
Erst nach der Mobilisierung von 25.000 Soldaten beruhigte sich die Szenerie. Seitdem erlebt das Land Südafrika wieder einmal einen Neuanfang. Bilder von Menschen aller Hautfarben und Kulturen, die gemeinsam nach den Unruhen die Straßen säubern, geben Anlass zur Hoffnung – genauso wie die Solidarität der Menschen. An vielen Orten in Südafrika schlossen sich auf dem Höhepunkt der Unruhen Bürger zusammen, um ihre Häuser und Städte gegen die Angreifer und Plünderer zu verteidigen, oft bis an den Rand der Erschöpfung. Trotzdem steht das Land in den nächsten Monaten und Jahren vor schweren Herausforderungen.
Durch die Corona-Pandemie und die Unruhen der vergangenen Wochen ist die Schere zwischen Arm und Reich größer geworden als je zuvor, die Situation vieler Familien ist prekär. Auch das Kinderheim und die Schwestern in Eshowe und Mbongolwane haben schwierige Wochen hinter sich. Trotz des engen Kontakts, den wir auch über die Ferne immer noch haben, hätten wir uns zuletzt oft gewünscht, noch vor Ort in Südafrika zu sein. Immerhin hoffen wir, mit unserer Arbeit Spuren hinterlassen zu haben, die auch nach unserer Abreise Bestand haben werden. Die sechs Jahre in Afrika waren gute Jahre – für uns, das Kinderheim St. Joseph und die Kongregation der Holy Childhood Sisters.
Auf seinem Blog WWW.WIR-REISSEN-AUS.DE schreibt der Journalist und Autor Daniel Scharnagl über das Leben mit seiner Familie im ländlichen Südafrika.