Wenn Worte fehlen

Asylarbeit – Schwester Juliana Seelmann erlebt es in der Arbeit mit Geflüchteten immer wieder: Menschen, die sprachlos sind oder sprachlos gemacht werden oder wurden.

Es gibt Momente im Leben, da fehlen einem einfach die Worte – aus überwältigender Freude oder Ärger, im Schock. Andere Menschen werden sprachlos oder stimmlos gemacht, durch Unterdrückung, Gewalt und Angst. Das Lexikon bezeichnet Sprachlosigkeit als das Unvermögen zu sprechen, physisch oder psychisch bedingt. 

Türöffner Sprache

Die erste Hürde ist die Sprache, entweder Türöffner, wenn man sie beherrscht, oder ausgrenzender Faktor. Viele sind in diesem Sinn gewissermaßen „physisch sprachlos“. Sie sind nicht der hier gesprochenen Sprache mächtig. Auch wenn sie sich bemühen, diese zu erlernen, braucht es Zeit und Geduld. Genauso braucht es Menschen, die sich auf diese scheinbare Sprachlosigkeit, die noch fehlende Sprachkenntnis, einlassen und kreativ nach Brücken suchen: Konversation in Englisch oder auch mit Händen und Füßen. Das klingt vielleicht banal, aber es ist nicht selten, dass Geflüchtete auf „taube Ohren“ stoßen, wenn sie kein Deutsch sprechen. Erst kürzlich erzählte eine äthiopische Freundin, dass sie in einer Klinik barsch zurechtgewiesen wurde: „Hier ist Deutschland und wir sprechen Deutsch. Alles klar.“ Dabei hatte sie nur eine kurze Nachfrage zu dem, was sie mit ihrem schon recht passablen Deutsch einfach nicht verstanden hatte. Mit ein bisschen Kreativität und gutem Willen ist doch auch mit wenig Sprache einiges möglich.

Würde – unantastbar ?!

„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“, lautet der erste Artikel des Grundgesetzes und er gilt allen Menschen. Weiter heißt es: „Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“ Der Schutz dieser Würde geht uns alle an! Doch so einige Gesetze oder Vorschriften – aus meiner Sicht oft unmenschlich – machen mich einfach nur sprachlos. Wie oft wird die Würde mit Füßen getreten und ist alles andere als unantastbar.

Abschottung

Immer wieder wird die Frage diskutiert, wie Grenzen noch besser kontrolliert bzw. geschlossen werden können. Europa schottet sich ab! Häfen werden geschlossen, zivile Seenotrettungsorganisationen werden an ihrer Arbeit, Menschen das Leben zu retten, gehindert.

Asylverfahren sollen an den Außengrenzen stattfinden, in eigens dafür eingerichteten Zentren. In einer Presseerklärung teilte Ratspräsident Donald Tusk mit, dass die libysche Küstenwache weiter ausgerüstet werden soll. Das bedeutet Grenzschutz in den Händen der libyschen Küstenwache, in den Händen von ehemaligen Milizen, wie immer wieder berichtet wird. Geflüchtete haben ihr Leben riskiert, um dann in libyschen Gefängnissen – oftmals erneut – Folter und Gewalt ausgeliefert zu sein. Schon im Jahr 2012 gab es ein Urteil des europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, dass niemand in einen Staat zurückgeschoben werden dürfe, in dem ihm Folter oder unmenschliche Behandlung drohe.

Wie können wir die Augen verschließen vor diesen Entwicklungen? Wie können wir die Augen schließen vor dem massenhaften Sterben im Mittelmeer? Sind wir selber sprachlos geworden?

Diese Nacht

Erinnerungen prägen sich tief in die Seele ein. Ein junger Mann berichtet immer wieder von „dieser Nacht“, die ihn nicht mehr schlafen lässt, ihm Angst macht. Diese Nacht, die alles Leben sinnlos erscheinen lässt. Diese Nacht, in der sein Bruder starb, in der er selbst verletzt wurde, in der er Todesangst hatte und gleichzeitig lieber mit seinem Bruder gegangen wäre. Überleben hieß danach, in einem libyschen Gefängnis eingesperrt zu sein, immer in Angst, was als Nächstes passiert. Diese Nacht, die er mit so vielen teilt. Mit denen, die überleben und mit den Vielen, die nicht gerettet werden.

Begrenztes System

In der Berliner Erklärung zum Flüchtlingsschutz schreiben und fordern Verbände und Organisationen im Juni 2018 gemeinsam: „Innerhalb Europas legt die „Dublin-III-Verordnung“ verbindlich fest, welcher Staat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Eine Zurückweisung an der Grenze ohne Feststellung des zuständigen Mitgliedsstaates ist daher rechtswidrig. Eine Reform des Dublin-Systems ist dringend erforderlich. Statt nationaler Alleingänge an den Grenzen bedarf es einer solidarischen Aufnahme, bei der den Staaten an den südlichen Außengrenzen nicht die alleinige Verantwortung für die Asylsuchenden zugeschoben wird und die Interessen der Schutzsuchenden berücksichtigt werden.“

Eine junge Frau aus Äthiopien hat so große Angst vor ihrer Rückführung nach Italien, dass sie in dieser für sie aussichtslosen Situation entscheidet, lieber in ihre Heimat zurückzukehren. Eine Heimat, in der ihr die Genitalverstümmelung droht.

Warum verschließen wir weiterhin unsere Augen davor, dass dieses europäische Verteilungssystem schon längst an seine Grenzen gekommen ist? Stattdessen werden Chartermaschinen gebucht, um Migrantinnen und Migranten in ihr Ersteinreiseland zu bringen. Viele landen, gerade in Italien angekommen, in der Obdachlosigkeit. Manche Frauen fürchten, erneut in die Hände ihres Zuhälters zu fallen, vor dem sie geflohen sind. Menschen, die verzweifeln, nicht weiter wissen und nicht selten Suizidgedanken haben. Machtlos – sprachlos!

Trotz oder wegen Integration?

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder kündigte bei der Eröffnung des Landesamts für Asyl und Rückführungen an, dass Asylbewerberinnen und -bewerbern „bei erbrachter Integrationsleistung“ früher Arbeit oder Ausbildung ermöglicht werden soll. Soweit die Theorie.

Die Berichte zeichnen leider ein anderes Bild. Erst kürzlich wurde laut Bericht des bayerischen Flüchtlingsrates ein Äthiopier abgeschoben, der nach sechs Jahren in Deutschland fließend Deutsch sprach, fast fertig studiert hatte, sich ehrenamtlich engagierte und eine Arbeitsstelle als Bürokaufmann gehabt hätte – leider wurde die Arbeitserlaubnis dazu nicht erteilt. Da stellt sich die Frage, welche Integrationsleistung, von der Herr Söder schreibt, fehlt da eigentlich noch?

Ermutigung zum Neubeginn

Im Sendungsauftrag der Oberzeller Franziskanerinnen und dem diesjährigen Jahresthema steht: „Wir achten die Würde jedes Menschen, geben Frauen eine Stimme und ermutigen zum Neubeginn.“ Ich hoffe, dass es uns gelingt, die Würde jedes Menschen zu achten, zu lieben, unsere eigene Sprachlosigkeit zu überwinden und Neuanfänge zu ermöglichen. Es ermutigt mich, dass es überall in der Welt Menschen gibt, die ihre Stimme erheben oder wie der „barmherzige Samariter“ einfach helfen.

So wie Mohammed aus Libyen, der einem jungen Mann nach der Flucht aus dem Gefängnis das Leben rettete, ohne ihn vorher jemals gesehen zu haben. Er war der Erste nach langer Zeit, der gegenüber den Verfolgern seine Stimme erhob, ihm etwas zu essen, zu trinken und ein Bett gab, der seine Wunden versorgte. Einfach so.

Ich hoffe, dass wir – wie Dorothee Sölle schreibt – „die wortlosen Gesten ringsum wahrnehmen, den Schmerz, den Worte zu mildern pflegen“ und dass wir mehr küssen, mehr lächeln und mehr weinen, „zusammen mit denen, deren einzige Sprache, die gehört und verstanden wird, Hunger ist.“

Bleiben wir selbst hungrig und verschließen nicht unsere Augen und Ohren vor dem Hunger derer, die auf der Suche sind nach einem Leben in Sicherheit und Frieden.

Sr. Juliana Seelmann