Was ist Wahrheit?

Was ist eigentlich Wahrheit? Und wie kann man Wahrheit finden? In der neuesten Ausgabe der Herder Korrespondenz (6/2019) beschäftigt sich ein Artikel mit diesem anspruchsvollen Thema. Das Christentum, so schreibt Gianluca de Candia, Professor für Systematische Theologie an der Philosophischen Fakultät der Universität Siegen, kennt bei der Wahrheitsfindung zwei Straßengräben: Den Fundamentalismus und den Subjektivismus. Im ersten Fall wird oft behauptet, dass man im Besitz der absoluten Wahrheit ist. Diese Wahrheit sei objektiv, ewig gültig und allumfassend, also dem Menschen vorgegeben. Das führt dann zu einem religiösen Absolutismus und schränkt die Freiheit des Menschen erheblich ein.

Plastisches Beispiel für so ein Wahrheitsverständnis ist das Tympanon auf der Nordseite der Marienkirche am Würzburger Marktplatz. Da sitzt Gottvater im Himmel auf dem Thron. Darunter ist die Verkündigungsszene dargestellt. Der Engel überbringt die Frohe Botschaft auf einem Spruchband. Maria kniet andächtig. Von Gottvater führt eine Art Schlauch herunter und endet am linken Ohr von Maria. Direkt an ihrem Ohr sitzt die heilig-Geist-Taube. Erst beim genauen Hinschauen sieht man, dass auf dem Schlauch wie auf einer Rutsche das Jesuskind bäuchlings herunter gleitet. Soll heißen: Maria empfängt direkt von Gott das Jesuskind durch das Hören der Hl. Schrift. Andere Menschen kommen auf dem Tympanon nicht vor.

Diese Sichtweise ist uns heute eher fremd. Viel verbreiteter ist der radikale Subjektivismus: In diesem Fall wird die eigene Wahrnehmung, die subjektive Perspektive und Erkenntnis zur allein gültigen Wahrheit erklärt. Es gibt dann nicht die eine Wahrheit, sondern die vielen verschiedenen Wahrheiten. Es gilt für alles und alle Meinungen offen und tolerant zu sein, jede/r hat eine Stimme. Entscheidungen werden durch Mehrheiten gebildet. So funktioniert jede Demokratie. Es zählen nicht mehr Fakten, sondern Interpretationen und Deutungen. „Relativität“, heißt der Titel einer Lithographie von Maurits Cornelis Escher. Darauf sieht man einen Raum, in den drei verschiedene Perspektiven eingezeichnet sind, die in sich ein stimmiges Ganzes ergeben. Zusammen ergeben sie allerdings einen verwirrend unmöglichen Raum. Je nachdem, wie man das Bild dreht, verändert sich der Standort. Dann wird das, was vorher wie ein Boden oder Fundament wirkte, zu einer Wand. Was für den einen ein Fenster war, wird beim Drehen des Bildes zu einer Falltüre. Und je nach Perspektive führen auch die Treppen nach oben oder unten. Folglich geht es für die Menschen, die sich auf derselben Treppe bewegen, entweder aufwärts oder abwärts. Alles ist relativ. Für den einen stellt es sich so dar, für eine andere, die von einer anderen Perspektive aus auf die Wirklichkeit schaut, kann es das pure Gegenteil sein. Wie kann man in so einer pluralen und vieldeutigen Welt von Wahrheit sprechen oder gar Wahrheit finden?

Vielleicht gibt es ja noch einen dritten Weg. Er besteht darin, dass das, was als wahr behauptet wird, sich bewahrheitet. Die Wirklichkeit wird dann nicht von oben oder von außen beurteilt, sondern man urteilt auf der Basis des Wirklichen, Faktischen, Nachweisbaren. Schon Thomas von Aquin sprach davon, dass Wahrheit eine Entsprechung sei von Sache und Intellekt. Freilich wissen wir heute, dass jede Ansicht und Einsicht immer gefiltert und partiell sind. Jede Wahrheit ist subjektiv vermittelt. Gleichzeitig übersteigt die Wahrheit das, was ein einzelner Mensch von ihr begreift. Je mehr jedoch eine Person sich um Wahrhaftigkeit bemüht, umso mehr kann sich die Wahrheit durch sie ausdrücken. Wahrheit entsteht also, indem Menschen versuchen, ihr im Denken und Handeln zu entsprechen.

„Wer die Wahrheit tut, kommt ans Licht“, heißt es im heutigen Evangelium. Es geht darum, die Wahrheit zu erkennen, aber auch der Wahrheit entsprechend zu handeln.
Bilder, die diesen Wahrheitsbegriff ausdrücken, finden sich auf der Grabplatte unserer Gründerin, Antonia Werr. Auf der rechten Seite sitzt sie mit sechs Gefährtinnen im Kreis. Auf ihrem Schoß liegt die aufgeschlagene Bibel. Sie zeigt mit dem Finger auf eine bestimmte Stelle im Wort Gottes. Über ihr schwebt die heilig-Geist-Taube. Sie ist nicht allein. Sie teilt das Evangelium mit den Schwestern. Gemeinsam hören sie auf die frohe Botschaft, tauschen sich darüber aus und versuchen tiefer zu verstehen, wozu sie Gottes Geist ruft.

In den anderen drei Darstellungen auf der Grabplatte sind jeweils in der oberen Ecke weitere Symbole für den heiligen Geist dargestellt: Eine Hand, der hl. Geist als Finger Gottes, der uns führt; eine Flamme und Strahlen. Die Szenen zeigen, wie die Schwestern die erkannte Wahrheit tun: Sie retten Mädchen und Frauen, die auf dem Strom des Lebens gescheitert sind und in den Fluten unterzugehen drohen. Sie reichen Bedürftigen das zum Leben Notwendige, sie wenden sich Menschen am Rand zu.

„Weg. Wahrheit. Leben. Im Glauben gemeinsam unterwegs“ Unter dieses Motto haben wir das 28. Generalkapitel unserer Kongregation gestellt, das an Pfingsten beginnt.

Wir nehmen uns dabei ein Vorbild an Antonia Werr, die bewusst den Beginn ihres Unternehmens auf das Pfingstfest gelegt hat. So wird deutlich, dass das, was wir anfangen, nicht nur unser Werk ist, sondern nur dann gelingen kann, wenn wir uns vom Geist der Wahrheit leiten lassen und auf Gottes Führung vertrauen.

Seien wir im Glauben gemeinsam unterwegs als pfingstliche Menschen und halten wir uns an das, was uns Antonia Werr als Erkenntnis überzeitlich gültig ins Testament geschrieben hat: „Wir wollen dem Herrn nicht von der Seite gehen, sondern hingebend erlauschen, was ER uns antwortet auf unsere Frage nach dem Wesen der Wahrheit. ER wird uns keinen anderen Weg weisen als den, den das hl. Evangelium uns lehrt.“

Sr. Katharina Ganz
Generaloberin