Stummen Opfern Stimme geben

USA – Schwester Antonia Cooper beschreibt ihre Gedanken zu dem Skandal um den jahrzehntelangen sexuellen Missbrauch der katholischen Kirche in den USA – Gemeindegottesdienste zur Aufarbeitung der Geschehnisse.

Während ich diese Gedanken über den gegenwärtigen Schmerz, den Kampf, den Skandal und die Ungerechtigkeit des sexuellen Missbrauchs in unserer amerikanischen Kirche schreibe, wird das Internet immer weiter mit Berichten überflutet. Die Nachrichten in Radio und Fernsehen bringen schreckliche, verstörende, widerliche und detaillierte Berichte über unzählige Kinder, deren Leben durch solche missbräuchlichen Erfahrungen zerstört wurde. All das hinterlässt mich tief betrübt und sprachlos angesichts der Kinder, die keine Stimme hatten, als sie den Missbrauch erlebten. Kinder, die ab den 1940er Jahren bis heute von Priestern sexuell missbraucht wurden, sagen, sie können nun von ihren Erlebnissen sprechen, weil die Misshandlungen nicht länger vertuscht, sondern endlich aufgedeckt werden. Wer hätte ihnen geglaubt?

Endlich ans Licht

„Nichts ist verhüllt, was nicht enthüllt wird, und nichts ist verborgen, was nicht bekannt wird. Darum, wird man alles, was ihr im Dunkeln redet, am hellen Tag hören, und was ihr einander hinter verschlossenen Türen ins Ohr flüstert, das wird man auf den Dächern verkünden.“ (Lukas 12, 2-3) Wer hätte gedacht, dass sich dies 2018 erfüllen würde?! Dabei sind die Dächer von heute das Internet. Viele Anschuldigungen betreffen den inzwischen zurückgetretenen Kardinal Theodore E. McCarrick (88) aus Washington DC. Seit seinem 39. Lebensjahr hatte er Kinder, Ministranten und junge Seminaristen sexuell missbraucht. Es gibt eine lange Liste von Personen, die sich öffentlich gegen Missbrauch ausgesprochen haben. Den Nachrichten zufolge wurden wegen ähnlicher Anschuldigungen Hunderttausende von Dollar als Ausgleichszahlungen bezahlt. Diese Aussagen sind bedrückend für die katholischen Gemeinden, die katholische Presse schreibt vom McCarrick-Schlamassel. Mitte August wurde ein Bericht der so genannten Großen Jury veröffentlicht, dessen Abfassung zwei Jahre in Anspruch genommen hat. Dieser Untersuchungsbericht umfasst und beschreibt die Vorkommnisse in sechs katholischen Diözesen in Pennsylvania. Die Opferanwälte sagen, dass dies die größte und umfassendste Untersuchung dieser Art von staatlicher Seite gewesen sei. Gegenwärtig wird gegen mehr als 31 US-Diözesen von Staatsanwaltschaften ermittelt.

Opfer wurden beschämt

Die Statistiken sind grauenhaft, um es gelinde auszudrücken. Aber was ist mit den Opfern? Im Pennsylvania-Bericht sagte Generalstaatsanwalt Josh Shapiro, dass die Grand Jury mehr als 1.000 Kinderopfer identifiziert hat, es jedoch Tausende mehr geben könnte. „Sexueller Missbrauch von Kindern ist traumatisierend (…) Opfer wurden beschämt“, sagte er. Ihre Werte wurden in Frage gestellt, geleugnet oder ignoriert. „Die Auswirkungen, besonders wenn sie geheim gehalten werden, dauern ein Leben lang an.“ Allein in diesem Bericht wurden Namen und Angaben zu 301 Anschuldigungen von sexuellem Missbrauch durch Priester der Diözese Pittsburgh genannt. Es gab offensichtlich eine Kette des Vertuschens, um die Priester zu schützen, die diese Verbrechen begangen haben, um in der Kirche keinen Skandal auszulösen. Die Priester wurden lediglich an andere Orte versetzt, ihre Taten aber gingen weiter. Daher war der sexuelle Missbrauch so weit verbreitet. Die Schuldigen, die diese Priester schützten, sind ihre Bischöfe, Kardinäle und sogar der Papst.

Gemäß „Verjährungsgesetz“ können die Opfer sexuellen Kindesmissbrauchs bis zum Alter von 30 Jahren eine Zivilklage und bis zum Alter von 50 Jahren ein Strafverfahren einreichen. Es gibt eine Bewegung in der staatlichen Gesetzgebung, um diese Verjährungsfristen aufzuheben. Manche wünschen sich ein rückwirkendes Zwei-Jahres-Fenster, damit Personen, für die die Frist inzwischen abgelaufen ist, rückwirkend eine Anklage einreichen können.

Am Dienstag, 14. August, dem Tag, als der Bericht der Grand Jury vorgelegt wurde, gestand Generalstaatsanwalt Josh Shapiro die Ergebnisse erst den Hinterbliebenen, bevor die Ergebnisse der Untersuchungen der Öffentlichkeit präsentiert wurden. Im Bericht der Grand Jury wurde der sexuelle Missbrauch von Kindern detailliert beschrieben und wohl von mehr als 300 Geistlichen vertuscht. Laut Generalstaatsanwalt dauern die Ermittlungen an.

Suche nach Neuanfang

Obwohl wir uns nach einem Neuanfang sehnen und uns Weihnachten nähern, um ein neues Kirchenjahr und die Feier der Menschwerdung einzuläuten, können wir nicht weitermachen ohne zu klären, was im Leben der Unschuldigen und der Stimmlosen über Jahrzehnte angerichtet wurde – in der gesamten Welt.

Die Diözese Metuchen wurde am 19. November 1981 errichtet. Gründungsbischof war Theodore E. McCarrick, der dort fünf Jahre lang wirkte. Deshalb waren die Menschen in unserer Diözese persönlich so geschockt über das, was nun ans Licht kam. Viele Gemeinden der Diözese haben spezielle Gebets- und Anbetungszeiten geschaffen, um einen Heilungsprozess zu beginnen. In der Marienkirche in Watchung, jener Pfarrei, die einige unserer Schwestern und ich seit 20 Jahren besuchen, wurde am 18. September eine Anbetungsstunde gehalten. Das Gebet konzentrierte sich auf Heilung, Wahrheit und Hoffnung. Es begann mit einem Zitat: „Mit Scham und Reue geben wir als Gemeinschaft der Kirche zu, dass wir nicht dort gestanden haben, wo wir eigentlich hätten stehen sollen, und dass wir nicht rechtzeitig gehandelt haben, als wir den Umfang und die Schwere des Schadens erkannten, der sich in so vielen Menschenleben auswirkte.“ Nach einem Eröffnungsgebet lasen wir eine Lesung aus dem Buch des Propheten Jesaja. Im Anschluss war Zeit für eine Reflexion, ein Auszug aus dem Brief von Papst Franziskus an das Volk Gottes wurde vorgelesen. Nach der Reflexion war die Gemeinschaft eingeladen, ihre Gefühle über den Missbrauchsskandal aufzuschreiben und ihre Karte in eine Schale auf dem Alter zu legen. Dann konnte man eine Kerze anzünden und ein Gebet für die Opfer sprechen. Anschließend hielt der Pfarrer eine Ansprache. Viele Mitglieder der Kirchengemeinde nahmen am Gottesdienst teil. Sie betonten, wie gut es tue, sich zum Gebet für die Opfer zu versammeln, nachzusinnen und die Gefühle aufzuschreiben. Die Menschen wurden eingeladen, Kerzen für weitere Gebete mit nach Hause zu nehmen. Im neuen Jahr wird die Gemeinde wieder zu Gebet und Austausch einladen. Es soll noch mehr Gelegenheiten geben, die sich weiterführend mit den Auswirkungen dieser Skandale zu befassen. Priester, die Diakone und professionelle Therapeuten möchten die Menschen einladen, ihre Gefühle auszudrücken, Fragen zu stellen oder ihr Ringen rund um den Skandal und die Vertuschung auszudrücken. Zusammen mit einer weiteren Franziskanerin werde ich als Vermittlerin fungieren. 

Mögen das Volk Gottes und der Klerus weiterhin nach Wegen suchen, um weiteren Missbrauch und Vertuschungen zu verhindern. Im Jahr 2002 wurde das Programm „Schutz der Kinder Gottes“ von der US-amerikanischen katholischen Bischofskonferenz in allen Kirchen, Schulen und Institutionen herausgegeben. Damit soll präventiv gehandelt werden. Wir stützen und beten weiterhin füreinander und für die Zukunft unserer Kirche. Die Menschen, die ihr ganzes Leben lang verstummt waren, wegen der Verbrechen, die ihnen als Kind widerfahren sind, erhalten jetzt eine Stimme.

Sr. Antonia Cooper