Stellungnahme zum Missbrauchsgutachten: „Eigene Fehler bekennen und Konsequenzen ziehen“

Erneut zeigt das jüngste Gutachten aus dem Erzbistum München-Freising in erschütternder Weise das Ausmaß sexualisierter Gewalt in der Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg bis in die jüngste Vergangenheit hinein auf. Offiziell wurden 235 mutmaßliche Täter und knapp 500 Geschädigte ermittelt. Betroffene waren dabei bisher nicht oder kaum im Blick. Geschützt wurden die Täter und die Institution. „Obwohl die Fakten und das systemische Versagen seit nunmehr zwei Jahrzehnten weltweit aufgedeckt werden, sorgt jede neue Studie für Entsetzen und Scham angesichts der Schuld, die konkrete Personen und die katholische Kirche als Institution auf sich geladen haben“, betont Sr. Dr. Katharina Ganz, Generaloberin der Oberzeller Franziskanerinnen.

Dabei seien Frauen und auch die Oberzeller Ordensfrauen keineswegs die alleinige oder bessere Lösung des Problems, sondern „wir sind wie andere auch Teil von Verstrickungen und von Systemen, die (sexualisierte) Gewalt an Schutzbefohlenen zugelassen und verübt haben oder durch mangelnde Sensibilität nicht oder spät erkannt haben“. In dieser schmerzhaften Situation Verantwortung zu übernehmen bedeutet für die Ordensfrau: „der Wahrheit ins Gesicht sehen, eigene Fehler bekennen, Konsequenzen ziehen, den Betroffenen Gerechtigkeit widerfahren lassen und alles in der Macht des jeweiligen Amtes und der Organisation stehende tun, damit künftig solche Verbrechen verhindert werden“. Im Bereich der Prävention ist bereits viel geschehen. Die Aufarbeitung läuft an und wird die Kirchen noch Jahrzehnte beschäftigen.

Grundlegende Reformen nötig

Ob „die Kirche“ noch zu retten ist, hänge davon ab, was man unter dem Begriff versteht, so Sr. Katharina weiter. Kirche bezeichne die Amtskirche und Hierarchie genauso wie die Gotteshäuser und die Gemeinschaft der Gläubigen. „Die Amtskirche kommt meines Erachtens um grundlegende Reformen nicht mehr herum, wenn sie in Zukunft noch bestehen will.“ Sie müsse ernsthaft ins Handeln kommen, was die Rolle und Stellung von Frauen betrifft, aber auch die Lebensform der Priester auf den Prüfstand stellen, betont die Generaloberin. „Es braucht unabhängige Instanzen, an die sich Mitarbeitende und Geschädigte wenden können.“

An diesen Themen arbeitet auch der Synodale Weg der katholischen Kirche in Deutschland. „Ich hoffe und wünsche mir, dass das Gutachten aus München Rückenwind für diesen Prozess bringt und wir mutige Entscheidungen treffen.“

Die Ordensfrau ist überzeugt, dass die Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen trotz dieser Erschütterung eine Zukunft hat. Denn der Geist und die frohe Botschaft Jesu Christi ließen sich nicht auslöschen. Alle Getauften und Gefirmten seien aufgerufen, in ihrem konkreten Alltag sichtbar zu machen, was Jesus gewollt und getan hat: dass Menschen aufgerichtet werden in ihrer Würde, dass sie Heilung erfahren, ihnen Mut gemacht wird, die Ausgegrenzten in die Mitte geholt werden, den Rechtlosen Gerechtigkeit widerfährt. „Wo immer das geschieht – in welchem Namen und mit welcher Motivation auch immer – ist Kirche lebendig und wächst das Reich Gottes. Auf diese Menschen kommt es jetzt an.“

 

Hintergrund: Münchner Gutachten

Das am 20. Januar vorgestellte Münchner Gutachten der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) sieht Fehlverhalten beim Umgang mit Missbrauch durch den emeritierten Papst Benedikt XVI./Joseph Ratzinger, den derzeitigen Erzbischof Kardinal Reinhard Marx, Kardinal Friedrich Wetter und weitere Verantwortungsträger. Die Gutachter ermittelten bei ihrer Prüfung von Missbrauchstaten 235 mutmaßliche Täter von 1945 bis 2019. Davon seien 173 Priester gewesen. Die Zahl der Geschädigten liege bei 497. Davon seien 247 männliche Betroffene gewesen, 182 weiblich. Bei 68 Personen sei das Geschlecht nicht festzustellen gewesen. Bei fast 60 Prozent von diesen seien die Taten im Alter zwischen 8 und 14 Jahren erfolgt.

Hier geht es zum Münchner Gutachten „Sexueller Missbrauch Minderjähriger und erwachsener Schutzbefohlener durch Kleriker sowie hauptamtliche Bedienstete im Bereich der Erzdiözese München und Freising von 1945 bis 2019 – Verantwortlichkeiten, systemische Ursachen, Konsequenzen und Empfehlungen“:

https://westpfahl-spilker.de/wp-content/uploads/2022/01/WSW-Gutachten-Erzdioezese-Muenchen-und-Freising-vom-20.-Januar-2022.pdf