Verwundet – verwandelt – Wanderausstellung von Dr. Marlies Reulecke, die von 14. Januar bis 4. Februar in der Klosterkirche Sankt Michael zu Gast war, über hauptsächlich afrikanische Frauen mit Fotografien aus dem Marienzyklus von Jens Reulecke verleiht Frauen eine Stimme.
„…da ich aber als Frauenzimmer in der katholischen Kirche keine Stimme habe und folglich so viel als todt bin…“ Dieses noch immer aktuelle Zitat Antonia Werrs hebt die Bedeutung des „Sich-Mitteilen-Könnens“ hervor. Worte haben Macht. Wer keine Worte oder keine Stimme hat, zählt nicht und ist so viel als tot. Wer keine Stimme hat – ist verwundbar und schwach. Während Aufenthalten in Afrika habe ich viele Frauen kennengelernt, die keine Stimme haben.
Die Ausstellung „Berührt – Schmerz und Versöhnung – Die Stärke des Weiblichen“ mit 15 Texten über hauptsächlich afrikanische Frauen und 15 Fotografien aus dem Marienzyklus von Jens Reulecke verleiht genau diesen Frauen eine Stimme. Die Texte beschreiben normale Frauen, die durch ihr Leben und ihr Sein tief berühren. Sie erzählen von Frauen, die es geschafft haben, unter widrigsten Umständen ihre Verwundungen zu wandeln. Überall dort, wo gelitten wird, sind Frauen besonders betroffen, sei es durch Krieg, auf der Flucht, durch Missbrauch, häusliche Gewalt, durch Armut oder Krankheit: Es sind Geschichten über die vergewaltigten Frauen im Ostkongo, der vom Ehemann mit HIV Infizierten im Niger, den als Kinder verheirateten Mädchen in Kamerun, den tansanischen Großmüttern, deren Kinder dem AIDS-Virus zum Opfer gefallen waren und die nun für ihre Enkel sorgen. Die strukturelle Gewalt der katholischen Kirche diesen Frauen gegenüber, beispielsweise indem sie ihnen den Zugang zu Familienplanungsmethoden vorenthalten, hat mich als Ärztin sehr betroffen gemacht. In all dem Leid und Schmerz habe ich auch das Andere, Verborgene in ihnen gesehen: ihre unglaubliche Stärke, ihr Mitgefühl, ihre Solidarität, ihre Lebensfreude und nicht zuletzt ihre innere Schönheit und Würde.
Unbändiges Leid
Als ich nach Afrika kam, war ich anfangs entsetzt, die Geschichten der einzelnen Frauen zu hören. Das Leid schien mir unerträglich, ich spürte eine unbändige Wut gegen ihre Männer, gegen die ganze Gesellschaft, die Kultur. Je besser ich sie kennenlernte, desto deutlicher fiel mir ihre scheinbar unerschöpfliche Stärke und Lebensfreude auf. Sie waren sehr viel mehr als Opfer. Sie schafften es, auf kreative Art und Weise mit ihrer Verwundbarkeit umzugehen. Viele dieser Frauen setzten sich wie Antonia Werr für Andere ein. Sie scheuten sich auch nicht, sich selbst durch ihr Engagement noch vulnerabler zu machen, wie z.B. Theresa, eine Psychologin, die sich im Ostkongo für vergewaltigte Frauen einsetzt und aufgrund ihres Engagements regelmäßig Drohungen erhält.
Frausein in Afrika
Oft habe ich mir die Frage gestellt, wie es diesen Frauen gelingt, mit ihren Verwundungen so zu leben, dass sie nicht nur überleben, sondern sich ihr Leid vielmehr wandelt und Wunden heilen können? Woher nehmen sie diese enorme Kraft, aus der Opferrolle herauszutreten? Die afrikanischen Frauen verfügen nicht über sehr viele äußere Ressourcen, die ihnen helfen könnten, zu überleben. Oft sind sie sehr arm, eher ungebildet und abhängig von ihren Männern. So schließen sie sich offensichtlich an andere, innere Quellen an. Meiner Beobachtung nach handelt es sich bei diesen Quellen in erster Linie um ihr Frausein oder ihre Weiblichkeit und um ihre Spiritualität. Ich habe das Frausein in Afrika sehr viel präsenter erlebt als bei uns. Frausein verleiht Identität und Würde, ist Teil des Lebens, Teil des Selbstverständnisses von Frauen. Natürlich nehmen auch afrikanische Frauen ihre Verwundbarkeit wahr und streben nach Gleichberechtigung. Vielerorts werden sie von Männern klein gehalten. Man bringt ihnen bei, dass sie nichts wert sind und behandelt sie auch entsprechend, verheiratet sie gegen ihren Willen, verwehrt ihnen den Zugang zu Bildung, fügt ihnen vielfältigste Wunden zu. Doch auf wundersame Weise verleiht ihnen diese tiefe Verbindung mit ihrem Frausein innere Würde und Kraft. Dieses Frausein drückt sich auch im Ausleben typisch weiblicher Eigenschaften aus, wie Kinder gebären, fürsorglich und mütterlich sein, intuitiv handeln, emotional sein. Dabei fällt es auf, dass diese Frauen sich dieser Eigenschaften nicht schämen. Vielmehr leben sie sie selbstverständlich aus, ohne sich danach zu sehnen, wie Männer zu sein. Entsprechend ist mir in Afrika auch noch keine Frau begegnet, die keine Kinder haben möchte. Natürlich gibt es mittlerweile auch in Afrika Frauen in wichtigen Positionen bis hin zur Staatschefin, doch deshalb würde keine von ihnen auf die Idee kommen, auf Kinder zu verzichten. Auch den Satz, dass eine Frau „nur“ Kinder erzogen hat, höre ich zwar von deutschen Frauen, in Afrika hingegen nicht.
Solidarität unter Frauen
Dort sind Frauen nun mal auch Mütter, und es ist etwas zutiefst Weibliches, Leben zu gebären, es weiterzugeben und zu bewahren. Zum Frausein gehört es auch, mit anderen Frauen Zeit zu verbringen und sich gegenseitig zu stärken. Was in der Kultur, der Gesellschaft oder durch den Ehemann an Selbstwertgefühl zerstört werden konnte, wird in der Gemeinschaft mit anderen Frauen wieder aufgebaut. Da wird zusammen gearbeitet, erzählt, gesungen und gelacht, gerade auch über das, was man mit Männern erlebt. Humor scheint eine wichtige Ressource zu sein, um mit den Widrigkeiten des Lebens klarzukommen.
Weibliche Spiritualität
Neben der Weiblichkeit stellt die Spiritualität der Frauen eine weitere sehr wichtige innere Ressource dar. Aus dieser Quelle schöpfen viele Frauen, egal welcher Religion sie angehören. In den meisten katholischen und auch evangelischen Gottesdiensten wimmelt es nur so von Frauen und Kindern, die Männer machen sich eher rar. Andere Frauen besuchen nie einen Gottesdienst, können weder die Bibel noch den Koran lesen und sind doch total verbunden mit dem, der das Leben gibt. Es scheint eine enge Verbindung zwischen Spiritualität und Weiblichkeit zu bestehen. So hat mich immer wieder die pure Präsenz vieler Frauen in ihrem Alltag fasziniert, nämlich das Leben so anzunehmen wie es ist, sich an den kleinen Dingen zu erfreuen, Zeit zu haben für andere Menschen, einfach da zu sein. Ich entdecke darin Eigenschaften und Werte, die vielen Frauen in Deutschland verloren gegangen sind und die wir uns durch spirituelle Übungen erst wieder aneignen müssen, die aber für viele dieser Frauen einen normalen Bestandteil ihres Lebens darstellen. Und so möchte die Ausstellung nicht nur auf das Leid dieser Frauen hinweisen, sondern sie vielmehr in ihrer Ganzheit sehen – als Menschen, denen Leid zugefügt wird, die aber über innere Ressourcen verfügen, dieses Leid und den Schmerz zu wandeln. Solidarität unter Frauen bedeutet für mich auch Austausch auf Augenhöhe sowie gegenseitiges Geben und Nehmen. Könnten nicht auch wir westlichen Frauen etwas von diesen Frauen lernen und uns von ihrer Weiblichkeit als einer inneren Quelle der Kraft inspirieren lassen? Das soll natürlich nicht heißen, dass wir Unrecht schweigend hinnehmen, sondern uns auf unsere innere Stärke besinnen und sie einsetzen, um unsere Welt lebenswerter zu machen.
Dr. Marlies Reulecke