Sprachlos im Leiden

Klinikseelsorge – Die Theologin Dr. Annette Stechmann erforschte in ihrer Dissertation „Das Leid von Müttern totgeborener Kinder. Ein Ort der Theologie“ den Umgang von Frauen mit diesem Schicksal.

Sprachlos bin ich ziemlich häufig – in den verschiedensten Situationen. Wenn mir jemand Gemeines an den Kopf knallt, mit dem ich nicht gerechnet habe, wenn ich mir ansehe, mit wie viel Wut und Gewalt Menschen andere klein machen, dann bin ich sprachlos, fassungslos. Es ist etwas eingetreten, mit dem ich nicht gerechnet habe, etwas, das mich in der Situation überfordert, das ich noch nicht so einsortieren kann, dass ich darauf gleich eine Antwort parat hätte.

Sprachlosigkeit begegnet mir auch in meinem beruflichen Alltag als Klinikseelsorgerin: Da sind Menschen sprachlos angesichts einer Diagnose, die sie wie aus dem Nichts überfällt. Da sind Menschen sprachlos, wenn plötzlich ein lieber Mensch gestorben ist. Da sind Ärztinnen und Ärzte sprachlos, wenn sie eine schlechte Nachricht überbringen müssen. Es gibt ein Ringen um Worte im Angesicht von Unaussprechlichem.

Auch ich bin oft sprachlos, wenn ich zu Menschen gerufen werde, die um Worte ringen oder die nichts mehr sagen können. Da sind diese hungrigen Augen, die zeigen, dass da jemand ist, der sich an etwas festmachen will. Da sind die Tränen, die deutlich machen, wie schmerzvoll die Erfahrung ist, die da jemand machen muss. Da sind Hände, die nach mir greifen, um sich irgendwie an mir festzumachen. Da gibt es leere Blicke voller Schmerz und ich als Seelsorgerin habe dann auch keine Worte. Floskeln sind hier fehl am Platz. Was soll ich angesichts des Grauens, das Menschen erleben, in ihre Trostlosigkeit hinein von Gott sagen? Mir haben schon so viele Menschen gesagt: „Ich habe so gebetet, ich habe immer gebetet, aber jetzt, jetzt hat sich Gott abgewendet von mir. Er ist nicht mehr da.“ In der Klinik begegne ich immer wieder Menschen, die sprachlos im Sinne von „wortlos“ sind. Auf einer anderen Ebene aber zeigt sich, dass sie sehr wohl kommunizieren. Da sind Tränen, viele Tränen. Tränen, die leise laufen, Tränen, die aus Augen strömen oder tropfen, die voller Verzweiflung, Liebe, aber auch Wut sind. Wer weint, drückt aus, getroffen oder verletzt zu sein. Tränen und die Art und Weise, wie sie geweint werden, zeigen mir sehr deutlich, was jemand empfindet – auch wenn jemand dafür noch keine Worte hat.

Meine Sprachlosigkeit als Klinikseelsorgerin bewegt mich vor allem in den Situationen, wenn ein Kind stirbt. Wenn ein Kind stirbt, das lebend geboren wurde, aber zu krank war, um zu leben, wenn überhaupt Kinder sterben, dann habe auch ich Tränen in den Augen oder einen Kloß im Hals. Es ist falsch, sagen mir immer wieder Menschen, wenn die Reihenfolge verkehrt wird, wenn Kinder vor ihren Eltern sterben. Das gilt übrigens auch für erwachsene Kinder, die vor ihren älteren Eltern sterben.

Stirbt nun aber ein Mensch, bevor er oder sie geboren wurde, ist die Situation besonders herausfordernd. Viele haben in einer solchen Situation gutgemeinte, aber verletzende, vermeintlich tröstende Worte wie „Ach, du bist ja noch jung“, oder „du hast doch noch andere Kinder“ oder gar „war doch noch gar nichts“. Die Kirche hat in der Vergangenheit mit der Tradition des sogenannten Limbus das Ihre dazu getan. Der Limbus war ein Gedankenkonstrukt, das besagte, dass diese Kinder auch keinen Ort bei Gott hätten. Wieviel Leid diese kirchliche Vorstellung trauernden Müttern und Vätern über Jahrhunderte beschert hat, macht mich zusätzlich sprachlos. Papst Benedikt XVI. und päpstliche Kommissionen haben in den letzten Jahrzehnten den hinter dem Limbus stehenden Vorstellungen eine Absage erteilt und der Vorstellung eines liebenden Gottes Vorrang gegeben.

Schwere Entscheidung

Da haben sich Frauen und Männer auf ihr Kind gefreut, haben sich ein Leben mit ihm ausgemalt, haben vielleicht schon erste Spielsachen mit viel Liebe ausgesucht oder die ersten Strampler geschenkt bekommen. Doch dann kommt ein Moment, wo sie beim Frauenarzt beim Ultraschall erkennen, dass ihr Kind schon im Mutterleib gestorben ist oder schwerstbehindert sein wird oder gar nicht erst lebensfähig ist. Frauen und Männer müssen in dieser Situation entscheiden, was eigentlich nicht zu entscheiden ist. Sie müssen entscheiden, wie es mit ihrem Kind weitergehen soll – mit ihrem Kind, auf das sie sich gefreut haben, dessen Leben sie sich voller Freude ausgemalt haben. Es gibt heute durch die üblichen Untersuchungen eigentlich nicht mehr die Möglichkeit, sich nicht zu entscheiden. In dieser Situation sind Eltern oft sprachlos: wie sollen sie etwas entscheiden, was sie eigentlich gar nicht entscheiden wollen oder können? Woran sollen sie sich orientieren? Die meisten Eltern, die ich nach Abtreibung oder auch Spätabtreibung begleitet habe, haben mir gesagt, dass sie sich aus Liebe zu ihrem Kind so entschieden haben. Eine Spätabtreibung aus Liebe. Da sind Frauen, die ihrem Kind das Beste wünschen und sich entscheiden, dass es nicht von Operation zu Operation gereicht werden soll bis es in der Klinik stirbt. Das sind Situationen, die mich sprachlos machen. Frauen entscheiden sich – so sagen sie – aus Liebe für die Tötung ihres Kindes.

Für Frauen, die ich im Rahmen meiner Dissertation („Das Leid von Müttern totgeborener Kinder. Ein Ort der Theologie“, Echter-Verlag 2018) interviewt habe, spielt Gott eine entscheidende Rolle. Er ist der Ort, an dem alles Unaussprechliche, alle Wut, aber auch alle Hoffnung verortet werden können. Frauen sind wütend auf Gott: „Was habe ich ihm getan? Womit habe ich das verdient?“ Frauen verstehen nicht, wie grausam Gott sein kann, dass er ihnen ihr Kind wegnimmt. Sie glauben, dass ihre Kinder an einem guten Ort sind – aber nicht an einem Ort, für den Gott steht, dass ihre Kinder im Himmel sind, aber Gott dort quasi keinen Zutritt hat. So groß ist die Wut dieser Frauen auf Gott. Er, der in ihrer Glaubensdeutung ihren Kindern das Leben genommen hat, hat aus ihrer Perspektive kein Recht darauf, mit ihnen nach ihrem Tod in Kontakt zu sein.

Andere Frauen hoffen darauf, dass Gott auf ihr Kind aufpasst oder erleben andere Menschen, die sie in dieser Situation achtsam begleiten, als Inkarnation der Zärtlichkeit Gottes. So unterschiedlich diese Frauen sind, so wird deutlich, dass sie durch den Gottesbegriff wortfähig geworden sind. In einer Situation, in der sie nicht ausweichen konnten, in der alles, was bisher ihrem Leben Sinn und Orientierung gegeben hat, unter ihren Füßen zusammengebrochen ist, sind diese Frauen zu Theologinnen geworden – zu Frauen, die von ihrer Gotteserfahrung sprechen können. Sie haben sich nicht darum gerissen, aber es gab keine Möglichkeit auszuweichen. Mit ihren Worten legen Mütter totgeborener Kindern Zeugnis davon ab, welche Rolle Gott in ihrem Leben spielt. Diese Theologien sind nicht unbedingt christlich, sprechen aber von Gotteserfahrungen dieser Frauen. 

Zu diesen Frauen von Gott zu sprechen, ist herausfordernd. Es besteht die Gefahr, in die Straßengräben des Fundamentalismus im Sinne des einfachen Wiederholens althergebrachter Formeln oder der Sprachlosigkeit zu fallen. Auf der Suche nach der richtigen Art und Weise, von Gott in dieser Situation zu reden, konnte ich in den Interviews der Frauen und Reaktionen von systematischen Theologinnen und Theologen, angereichert durch meine pastorale Praxis folgendes erkennen: Derjenige, der diesen Frauen in all ihrem Ringen, im Festhalten an der Liebe zu ihren Kindern, die Hand entgegenstreckt, als sie unterzugehen drohen, ist der Gott, der in Jesus selbst ein Kind geworden ist. Er ist derjenige, der nicht den Begriff von ihm gegen diese Frauen, die unermessliches Leid erfahren haben, verteidigen muss. Er lässt es zu, dass diese Frauen ihm all ihre Wut, Verzweiflung, Trauer, ihr vorsichtiges Suchen, ihre Hoffnung auf ihn, entgegenschleudern können. So wird es möglich, dass diese Frauen weiterleben, auch wieder Glück erleben können. Sie sind verletzt, gezeichnet, aber sie leben weiter und sind voller Liebe für ihre verstorbenen Kinder.

Eine angemessene Rede von Gott in einer solchen Situation weiß darum, dass man nicht einen bestimmten Gottesbegriff gegen diese Frauen verteidigen muss, weil Gott es auch nicht tut. Eine angemessene Rede von Gott in einer solchen Situation muss sich selbst aus dem vermeintlichen Haus der Sicherheit kirchlich-tradierter Redeweisen heraustrauen. Gott befindet sich in keinem Elfenbeinturm. Er ist auf der Seite der Trauernden, der Verzweifelten, derer, die mit ihm ringen, weil sie jemanden lieben, der schon gestorben ist, bevor er oder sie geboren wurde.

Gott drängt sich diesen Frauen nicht auf, so darf es auch nicht die Rede von ihm. Gott ist diesen Frauen nahe im Modus einer Zärtlichkeit, die die angemessene Haltung in Bezug auf die Endlichkeit allen Lebens ist. Zärtlichkeit ist mächtig und stark, sie ist präsent und will andere trösten, wärmen, aufrichten. Die Rede von Gott in Situationen, die sprachlos machen, sollte dieser Haltung der Zärtlichkeit entsprechen. Voraussetzung für diese Haltung ist die Bereitschaft, sich selbst nicht herauszuhalten aus diesen grausamen Situationen, in denen alles zusammenbricht, sich berühren zu lassen, das eigene Gottesbild auch hinterfragen zu lassen. Ob jemand diese Haltung einnehmen kann, ist letztlich eine Frage des eigenen Glaubens, der eigenen Hoffnung und Bereitschaft, Gott zu trauen, dass er, der selbst Kind geworden ist, mich als Theologin oder Theologe in allem Ringen um die Grausamkeiten des Lebens retten kann.

Dr. Annette Stechmann,
Pastoralreferentin in der Klinikseelsorge Hildesheim