Katholische Wohltätigkeitsorganisationen, Franziskanerinnen und die ‘Yardville Babys’

Wir schreiben das Jahr 1965. Irgendwann im Oktober. Irgendwo in New Jersey. Die Flure dieses Hauses sind Standard – eine eigenartige Mischung aus Wärme und Kälte.

In den verschiedenen Räumen sind Babybetten zu sehen. Krankenschwestern, ihrem Aussehen nach Ordensfrauen, können in ihren jeweiligen Aktivitäten und Aufgaben beobachtet werden. Insbesondere eine Schwester nimmt ein Kind aus den Armen seiner Mutter und lächelt. Die junge Mutter trägt einen Hauch von Verwirrung und nachdenklicher Sorge. Mit Bedauern und Traurigkeit zieht sie langsam ihren Krankenhauskittel aus, ihre Augen auf das Kind gerichtet. Sie sucht ihre persönlichen Sachen zusammen, wendet sich ab und verlässt den Raum. Die lächelnde Schwester hält das Kind in der Luft und freut sich innerlich über die Kostbarkeit und Schönheit der jüngsten Ankunft Gottes. Die Augen des Babys  streifen durch den Raum und fallen auf das Gesicht der lächelnden Schwester. Das Kind wusste nicht, dass die Reise von diesem Tag an eine “weniger befahrene Straße” sein würde.

Dies ist Kris‘ Geschichte.
Dies ist Antonias Geschichte.
Dies ist Laetitias Geschichte.
Dies ist die Geschichte einer Mutter.
Dies ist eine Geschichte der Fürsorge inmitten von Verwirrung.
Dies ist eine Geschichte der Liebe inmitten von Trauer, Schmerz und Verlust.

Dies ist meine Geschichte, insoweit ich das Privileg habe, ein Geheimnis aufzudecken und es zu erzählen – das Geheimnis der aufwändig verwobenen Vergangenheit eines Freundes – ein schöner Mann von 53 Jahren und Direktor der Abteilung Erwachsenenbildung der Katholischen Wohlfahrtsverbände in Albuquerque, New Mexico.

Kris Degenhardt identifiziert sich mit seiner Abstammung aus Schwarzafrika, Kuba und Deutschland. Er ist eine vielrassische Präsenz in seiner Arbeit, die Armen und Marginalisierten unserer Gesellschaft in einem Bildungsumfeld zu erreichen, das die Würde jedes Menschen und jeder Kreatur schätzt. Und die Identität steht im Mittelpunkt unserer Geschichte.

Als ich mich für ein Ehrenamt in der katholischen Wohltätigkeitseinrichtung an der Bridge Street in Albuquerque interessierte, traf ich Kris während eines Rundgangs durch das Gebäude und seine verschiedenen Abteilungen im vergangenen November 2018 zum ersten Mal. Kris war überwältigt von der Idee, dass ich in seiner Abteilung für Erwachsenenbildung von Nutzen sein könnte, und der Koordinator für Ehrenamtliche stimmte zu. Es dauerte nicht lange, bis sich eine Freundschaft zwischen Kris und mir entwickelte. Wir waren im gleichen Alter und besaßen ähnlich prägende Einflüsse, die zu einem geteilten, gemeinsamen Verständnis von Haltungen und Perspektiven beitrugen.

Bei einer Gelegenheit zeigte Kris ganz offen einige Fotos aus seiner Vergangenheit. Es waren nicht viele. Sie wirkten alt. Sie waren mit der Zeit verblasst und erschienen typisch für die damalige Zeit, da sie jeweils ein oder zwei Menschen pro Foto in verschiedenen, für den Kontext relevanten Posen festhielten. Einer von ihnen fiel mir mehr ins Auge als der Rest. Ich fragte: “Kris, bist du das auf dem Foto?” Ich fuhr fort: “Kris, wer ist die Schwester, die das Baby hält? Wie heißt sie und zu welcher Schwesterngemeinschaft gehörte sie?” Kris antwortete, dass das Kind im alten, verblassten Bild tatsächlich er sei, aber dass weder die Ordensschwester noch ihre Gemeinschaft bekannt sei.

Ich fragte Kris, ob ich ein Foto von der lächelnden Schwester, die ihn hält, machen könnte. Vorbehaltslos stimmte er dem zu und dachte nicht weiter darüber nach. Im weiteren Verlauf des Gesprächs an diesem Tag erwähnte er, dass katholische Wohltätigkeitsorganisationen aus Trenton im Bundesstaat New Jersey, die Rechtsträgerinnen waren, über die er zur Adoption freigegeben und zu Pflegeeltern gebracht wurde, dass das St. Francis Krankenhaus in Trenton die medizinische Einrichtung war, in der er geboren wurde, dass einige Missionsschwestern zu den katholischen Wohltätigkeitsorganisationen in Trenton gehörten, die die Zuarbeit für die Adoptionsagentur leisteten, und schließlich dass Yardville den Name einer Stadt war, in der sich das Heim für ledige Mütter damals befand.

Es war meine selbsternannte Mission, zu sehen, ob ich mit Hilfe von Google und anderen Mitteln, weitere Teile dieses Rätsel seiner frühen Kindheit herausbekommen konnte. Ich war sehr neugierig auf diese Gruppe von Schwestern, die ein Heim für ledige Mütter und Neugeborene unterstützte. Auch war ich neugierig auf die eine Schwester, die auf dem Foto abgebildet ist. Ich teilte meine Vorhaben nicht mit Kris, denn ich wollte ihn nicht enttäuschen, wenn ich keine weiteren Informationen finden konnte. Also behielt ich es für mich.

Später an diesem Abend und bis in den nächsten Morgen hinein war ich erstaunt, was ich über dieses Geheimnis herausfinden konnte – die Umstände von Kris’ früher Kindheit, die sich seit 1965 in der bewaldeten Landschaft von New Jersey, außerhalb der Grenzen der Stadt Trenton, entfaltete. Nach langem Suchen, falschen Hinweisen und nicht hilfreichen alten Zeitungsartikeln tauchte auf meinem Bildschirm eine Geschichte auf, eventuell ein altes Kloster in Yardville, New Jersey, abzureißen, das einst als Waisenhaus und Unterkunft für ledige Mütter genutzt wurde. Ich war auf der richtigen Spur. Dieses Haus in dem Artikel war mehrstöckig und hatte eine gelbe, viktorianische Holzstruktur. Es stand allein auf einem Hügel in einem einst bewaldeten Gebiet in der Nähe von Trenton. Bild für Bild schien in diesem Artikel zu bestätigen, dass dies tatsächlich das Zuhause war, in dem Kris und seine Mutter zusammen mit den Schwestern, die sich um ihn kümmerten, untergebracht waren. Beim nach unten blättern erschien ein Bild eines alten Schildes, das vor dem Gebäude stand und dieses als Teil eines katholischen Franziskanerinnenordens auswies.

Eine Suche nach der Kongregation der Schwestern, die auf dem Schild des verlassenen Klosters dargestellt ist, führte zu einem Artikel von Sr. Antonia Cooper OSF. Es war wie ein Lottogewinn. Die Zeitschrift „The Catholic Spirit“ (der katholische Geist) aus der Diözese Metuchen vom 22. Oktober 2015 erzählte die ganze Geschichte der Gründung der Kongregation 1855 in Deutschland, deren Ankunft 1929 in den Vereinigten Staaten und wie der brennende Wunsch ihrer Gründerin, “Frauen in Not zu helfen”, mit der Gründung des St. Elizabeth’s Home für unverheiratete Mütter in Yardville, New Jersey, zusätzlich zu anderen Diensten und Niederlassungen im Nordosten der USAweitergetragen wurde.

“Natürlich war Kochen und Wäschewaschen weit entfernt vom Gründungscharisma für Frauen und Mädchen in Not.“ In den Vereinigten Staaten nahm dieser Dienst in den Jahren 1934 bis 1976 Gestalt an, mit alleinerziehenden Müttern, meist Teenagern, um deren Ruf zu schützen. Im St. Elizabeth’s Home, Yardville, wurde mehr als 4.000 Mädchen und 5.000 Säuglingen geholfen. In den folgenden Jahren endete dieser Dienst aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen. In den folgenden 18 Jahren stellte die Gemeinschaft dann 35 Frauen eine Unterkunft zur Verfügung, die aus großen Einrichtungen für geistig Behinderte und auch aus Privathaushalten wieder in die Gesellschaft integriert wurden.

Wir leben weiterhin unsere franziskanische Lebensweise, wie sie im Sendungsauftrag unseres Regionalkapitels 2014 beschrieben ist: Als Oberzeller Franziskanerinnen leben wir in der Wahrheit und Einfachheit Christi, aufmerksam für die Würde des Menschen und die Versöhnung aller Menschen.

Schwester Antonia dient als Regionaloberin und Generalrätin
So war nun bekannt, dass der Name des Zufluchtsortes das St. Elisabeth’s Home in Yardville, war, dass die Fotos im vorherigen Artikel tatsächlich die von St. Elizabeth waren und schließlich, dass der Name der Kongregation der Schwestern, die auf dem Foto abgebildet waren, die Dienerinnen der heiligen Kindheit Jesus war, deren Gründerin Antonia Werr aus dem Kloster Oberzell in Würzburg, Deutschland, war.

Die Wiedergabe der bisher herausgefundenen Ereignisse lautete in etwa so. Kris’ Mutter wurde im Frühjahr 1965 in das St. Elisabeth’s Home für ledige Mütter gebracht. Sie blieb in diesem Haus bei einer Gruppe von Schwestern bis zur Geburt, zu der sie in das nahegelegene Krankenhaus St. Francis in Trenton, New Jersey, gebracht wurde. Sie wurde anonym registriert. Nach der Ankunft von Kris kehrte sie zu ihren Eltern zurück, und Kris wurde in die Obhut derselben Schwestern gebracht, die seiner Mutter Obdach gewährten. Dort in St. Elisabeth’s blieb Kris solange, bis die katholischen Wohltätigkeitsorganisationen von Trenton, mit Hilfe der Missionsschwestern, ein Pflegeheim finden konnten.

Durch eine Aneinanderreihung von Zufällen begegnete Kris um 1990 wieder seiner leiblichen Mutter. Sie war es, die Kris von St. Elisabeth und den Umständen um seine Geburt erzählt hatte. Es machte Sinn, dass seine Mutter, die Tochter deutscher Einwanderer, in ein Heim von Schwestern gebracht wurde, deren Gründung ihren Ursprung in Deutschland hatte. Aber könnten noch mehr zufällige Umstände zum Namen der Schwester auf dem Foto führen? Gab es eine Möglichkeit, mit Schwester Antonia Cooper OSF, Kontakt aufzunehmen, der Autorin des Artikels über ihre Kongregation aus dem Jahr 2015?

Glück oder Gnade? Schwester Antonia erwiderte eine Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter und versprach, sich das Foto anzusehen. An dieser Stelle erschien es sinnvoll, Kris in die bisher herausgefundenen Informationen einzubeziehen. Kris war erstaunt, ebenso wie seine beiden Freunde, die zufällig bei ihm waren, als er die Nachricht bekam. Mit Kris’ Erlaubnis wurde eine digitale Kopie des Fotos per E-Mail an Schwester Antonia geschickt. Noch am selben Tag antwortete sie:

[Die Schwester auf dem Foto ist] Sr. Laetitia Wickel, die in ihrer Heimat Deutschland studierte und sich für die Spezialisierung als Säuglingsschwester entschied. Sie lernte die Gemeinschaft durch zwei unserer Schwestern kennen, die in New York im “KDM” – einem Ort für deutsch-katholische Arbeiterinnen – lebten. Sie trat 1957, in Villa Maria, North Plainfield, in die Gemeinschaft ein. Nach Ablegung der Erstprofess am 4. Oktober 1959, war sie als Säuglingsschwester im St. Elizabeth’s Home, Yardville, eingesetzt. Missionarinnen der Dienerinnen der Heiligsten Dreifaltigkeit aus Philadelphia arbeiteten in der Diözese Trenton bei katholischen Wohltätigkeitsorganisationen, die die Jugendlichen untergebracht und Lehrer vermittelt haben, damit sie ihre Schularbeiten fortsetzen konnten, und die auch Adoptionen vermitteln konnten. Unser Auftrag war es, den Müttern ein liebevolles Umfeld zu bieten und die Kleinen bis zur Adoption zu betreuen.

Später, nachdem die Abtreibung legalisiert worden war, brauchte man diese Institution nicht mehr. Das Heim wurde daher Mitte der 1970er Jahre in den Dienst von Frauen mit Entwicklungsstörungen gestellt. Schwester Laetitia unterstützte dann diese Erwachsenen, die größtenteils ihr ganzes Leben lang in Heimen waren.

Sr. Laetitia wurde am 25. August 1912 geboren und starb am 2. Dezember 2001 im Alter von 89 Jahren. Sie war eine sehr liebe, leise sprechende Frau mit einem sehr warmen Herzen, die das Leben liebte und immer bereit für Feste war! Ihr Name bedeutet Freude.

Weitere Schwestern, die im St. Elizabeth’s Home tätig waren, sind:

Sr. Regis Bauer +1981
Sr. Praxedis Doernchen +2000
Sr. Walgunde Dorsch – 85, kehrte nach Deutschland zurück, in die Nähe ihrer Familie, um dort ihren Lebensabend zu verbringen. Momentan lebt sie im Franziskushaus.
St. Hortensia Schug +2004, war Fahrerin, die die Jugendlichen zu Terminen brachte und ins St. Francis Krankenhaus, wenn die Geburt bevorstand.

Wow. Kris war natürlich tief bewegt von den Geschichten derjenigen, die ihn und seine leibliche Mutter damals 1965 in Yardville, unterstützten. Er drückte mir seine Anerkennung dafür aus, dass ich den Namen der lächelnden Sr. Laetitia herausgefunden hatte, die ihn in den ersten Tagen seines Lebens mit solcher Zärtlichkeit und Fürsorge hielt. Er war auch dankbar, eine umfassendere Version der Fakten und Geschichten über die Kongregation der Franziskanerinnen, die ihn aufnahmen, zu kennen und über Sr. Laetitia, die ihn einst aufgezogen hat, sowie den heutigen Einsatz von Schwester Antonia, die ihre Mitschwestern in den Vereinigten Staaten darin führt, die Vision ihrer Gründerin weiter zu erfüllen und zu entfalten.

Sr. Laetitia nickt der Fotografin im Raum zu. Die bisherigen Aufnahmen werden der Mutter an ihren neuen Standort weitergeleitet, wobei die Anonymität der Mutter sorgfältig gewahrt bleibt. Als die Fotografin den Raum verlässt, um sich auf die letzte Fotorunde für diesen Tag vorzubereiten, lächelt Sr. Laetitia Kris wieder einmal an. Behaglich in den Armen der Schwester erwidert Kris das Lächeln. Sr. Laetitia legt Kris sanft in das weiße Kinderbettchen und bemerkt das gelbe Leuchten im Raum, das durch die Nachmittagssonne durch das Fenster hereinströmt. Es war Samstag. Sie greift zur Blumenvase vor dem Gipskreuz, das an der Seite der Wand angebracht ist.

Der heilige Franziskus, ihr Schutzpatron, streckte sich nach Christus, indem er seine Arme im Gebet dem Gekreuzigten entgegen hielt. Sie murmelte ihr eigenes Gebet, während sie die Blumen neu arrangierte. Beim Pflücken und Schneiden hatte sie um Kraft für die Stunden des vor ihr liegenden Abends gebeten. Morgen war Sonntag, aber das bedeutete nicht unbedingt Ruhe. Die Bedürfnisse, die ihr begegneten, brachten aus ihrer Seele eine solche Nächstenliebe und Freude hervor, die größer schien als die Müdigkeit, von der sie wusste, dass sie sie am nächsten Morgen mit zur Messe bringen würde. Bevor sie sich aus dem Raum zurückzog, stand Sr. Laetitia still in der Ruhe des Augenblicks, starrte auf das Kreuz, blickte dann zurück zu Kris und dankte für alles, was war, ist und sein wird. So begann sie bewusst ihre neue Woche des Gebets und Dienstes.

Dies ist Kris‘ Geschichte.
Dies ist Antonias Geschichte.
Dies ist Laetitias Geschichte.
Dies ist die Geschichte einer Mutter.
Dies ist meine Geschichte. Dies ist deine Geschichte. Dies ist eine Geschichte der Fürsorge inmitten von Verwirrung. Dies ist eine Geschichte der Liebe inmitten von Trauer, Schmerz und Verlust.

Br. Bernard Keele, OFM

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