Kastanien im November

Wann hatten sie das letzte Mal eine Kastanie in der Hand? Jetzt im Herbst kann man sie wieder einsammeln. Schaut man diese Frucht einmal an, bietet sie ein eindrückliches Bild: Umhüllt ist sie von einer äußerst unangenehmen Hülle, die ordentlich dick ist und außerdem Stacheln hat.

Wer an das schönere Innere kommen will, muss durch diese Hülle. Das kann eine recht schmerzhafte Aktion werden. Aber der Reifevorgang der Kastanie kommt uns da entgegen: Im Laufe der Entwicklung platzt die Hülle von selbst und gibt die glatte und glänzende Kastanie frei. Man muss diese Frucht nur gedeihen lassen, dann entledigt sie sich ganz von selbst der abstoßenden und unangenehmen Hülle und bringt ihre ganze Pracht zutage. Und das inmitten einer Zeit, die scheinbar erst einmal recht unangenehm wirkt. In diesen Novembertagen wird doch unser menschliches Leben sehr geprägt durch kurze Tage, eine spät aufgehende und früh untergehende Sonne. An manchen Tagen wird es gar nicht richtig hell und dicker Nebel vermittelt das Gefühl, unsere Welt reiche gerade bis zum Nachbarhaus. Diese Situation und Atmosphäre kehrt zwar jedes Jahr wieder und kein Mensch ist wirklich überrascht, aber wenn sie dann eintrifft, nimmt sie uns doch auch wieder völlig gefangen. Diese etwas gedrückte Stimmung macht sich auch in unseren Beziehungen bemerkbar. Ich weiß nicht, ob es Ihnen auch so geht: In der Sommerzeit ist es überhaupt kein Problem, mit Freunden sich zu verabreden oder andere Menschen zu treffen. An freien Tagen trifft man sich für einen Ausflug zusammen oder an lauen Abenden draußen auf Plätzen, unter Bäumen, am See. Das Leben findet im Sommer fast ausschließlich im Freien statt. Mit Beginn der dunkleren Tage ändert sich das oftmals. Manche Menschen ziehen sich zurück in sich selbst, manchmal macht sich auch ein Gefühl von Melancholie breit. Während sonnenerfüllter Helligkeit spüren wir das Leben pur, die dunklen Tage aber werfen uns auf uns selbst zurück und lassen uns nachdenklich werden, manchmal auch ein wenig depressiv. Wir machen es so ganz anders als die Kastanie, die jetzt erst zur vollen Lebensentfaltung gelangt. Daher sind wir jetzt geradezu aufgefordert, nach Erfahrungen im Leben zu suchen, die Aufbruch, Gedeihen und Entfaltung erfahrbar werden lassen. In einer dunklen Zeit wie dieser müssen wir das sehr bewusst tun. In dieser eher dunklen Zeit gehen wir auch dem Kirchenjahresende entgegen. In der Liturgie dieser letzten Tage im Kirchenjahr ist oft von der Endzeit die Rede. Wie die aussieht, beschreibt das Neue Testament in dramatischen Bildern: Die Gestirne werden in keiner Weise mehr ihren normalen Lauf nehmen, sondern völlig aus der Reihe tanzen. In diesem Chaos aber wirkt Gott selbst und wird das Weltgeschehen neu fügen und das Chaos ordnen. Dass es auch bei uns oftmals ungemütlich und chaotisch zugehen kann, spüren wir immer wieder, wenn Schicksalsschläge uns aus der Bahn werfen. In solchen Situationen, wo sich in unserem Leben Endzeitstimmung breitmacht, ruft die hl. Schrift uns auf, bei Gott Halt zu suchen; wir dürfen darauf vertrauen, dass auch dann, wenn scheinbar kein Boden mehr unter den Füßen da ist, Gott uns immer trägt so wie es der alttesttamentliche Beter im Psalm 139 formuliert: 

Du umschließt mich von allen Seiten / und legst deine Hand auf mich.
Zu wunderbar ist für mich dieses Wissen, / zu hoch, ich kann es nicht begreifen.
Wohin könnte ich fliehen vor deinem Geist, / wohin mich vor deinem Angesicht flüchten?

Gesprochen sind diese Worte leicht, aber wenn sie nicht zur Erfahrung im Leben werden, sind sie nur leeres Gerede. Um spüren zu können, dass Gottes Halt und Zuwendung eine Realität in unserem Leben ist, braucht es Menschen um uns herum, die uns dies spüren lassen, indem sie da sind, wenn wir sie brauchen, weil es uns schlecht geht und der Boden wankt. So kann es uns vielleicht dann doch gelingen, es ein wenig der Kastanie nachzutun: sich mitten in einer dunklen und unwirklichen Zeit in unserem Leben für Gottes Gegenwart zu öffnen, anstatt uns innerlich resigniert zurückzuziehen und uns Ihm zu verschließen.

OStR Achim Wenzel, Hausgeistlicher