Heraus mit der Wahrheit!
“Vertuscht, verdeckt wurde lange genug. Jetzt ist die Zeit der Wahrheit.” Das sagte der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz Georg Bätzing letzte Woche nach der Veröffentlichung des Münchner Missbrauchsgutachtens.
Der Aachener Bischof Helmut Dieser forderte ein öffentliches Schuldeingeständnis des früheren Erzbischofs von München und Freising, Joseph Ratzinger: “Es kann nicht dabei bleiben, dass Verantwortliche sich flüchten in Hinweise auf ihr Nichtwissen oder auf damalige andere Verhältnisse oder Vorgehensweisen. Auch Bischöfe, auch ein ehemaliger Papst, können schuldig werden, und in bestimmten Situationen müssen sie das auch öffentlich bekennen, nicht nur im Gebet vor Gott oder im Sakrament in der Beichte”.
Scheibchenweise geben die damals verantwortlichen (Erz-)bischöfe, Generalvikare und Kirchenrichter nun zu, dass sie Fehler gemacht und schuldig geworden sind, weil Missbrauchstäter nur versetzt, aber nicht aus dem Verkehr gezogen oder gar bestraft worden sind. So konnten sie zum Teil Jahrzehntelang weiter machen. Kinder oder Jugendliche waren ihnen schutzlos ausgeliefert. Die Opfer hat damals niemand interessiert. Hauptsache die Institution leidet keinen Schaden, und es kommt nichts an die Öffentlichkeit.
Kein einziger Bischof in Deutschland hat bisher persönlich Verantwortung übernommen und ist zurückgetreten. Egal, was der Papst dazu sagt. Zählt denn in der Kirche nur der Gehorsam gegenüber der Hierarchie? Wo bleibt das eigene Gewissen? Was ist mit der Verantwortung vor Gott?
Wie anders wirkt dagegen, was am Montag Abend auf den Bildschirmen zu sehen war: 125 Menschen outen sich. Sie sind Priester, Gemeindereferentin, Gästeführer im Dom, Erzieherin in einem katholischen Kindergarten, Referent für Jugendarbeit, Religionslehrerin oder Sozialpädagoge bei der Caritas. Eine Stunde lang sprechen sie von ihrem Doppelleben, das sie führen müssen, weil ihr Arbeitgeber nicht wissen darf, dass sie in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung leben. Manche nehmen lange Arbeitswege in Kauf, damit Wohnung und Dienstort weit auseinander liegen und sie nicht entdeckt werden. Andere haben Geheimzeichen entwickelt, um sich als Paar schnell voneinander zu entfernen, wenn sie auf der Straße ihrem kirchlichen Chef begegnen.
Die Interviews berühren. Bei vielen zittert die Stimme. Manche haben Tränen in den Augen. Als Zuschauerin weine ich mit. Es wird deutlich: Die Menschen, die sich hier in die Öffentlichkeit wagen, setzen alles auf eine Karte. Ihre berufliche Existenz steht auf dem Spiel. Ihr Arbeitgeber könnte ihnen sofort kündigen. Bei manchen ist das auch geschehen, als ihre Lebensform aufflog. Die Kirche sieht praktizierte Homosexualität immer noch als Sünde an.
Dabei sagen die Menschen einfach: Gott hat mich so geschaffen. Das ist meine sexuelle Identität. So bin ich. So fühle ich. Das kann und will ich nicht verändern. Früher habe ich mit mir gehadert oder wollte mich sogar umbringen. Heute habe ich es satt, mich zu verstecken. Erkennt das endlich an. Mein Glaube hat mir geholfen, mich anzunehmen. Auch wenn die Kirche mir oft vermittelt hat, dass mit mir etwas nicht stimmt.
Je mehr Menschen sich als „queer“ outen, umso deutlicher wird: In unserer Kirche läuft Entscheidendes quer. Die Moral ist verkehrt. Im Ansinnen die Institution zu schützen, hat die Kirche ihren eigenen Mitgliedern geschadet und tut es noch heute. Das kann nicht Gottes Wille sein. Das widerspricht dem Geist und Handeln Jesu. Es braucht eine radikalen Wandel. Wenn wir den Menschen nicht gerecht werden, versündigen wir uns gegenüber Gott, der in Jesus Mensch geworden ist und unsere Menschennatur angenommen hat.
Heute, am 27. Januar, denken wir Oberzeller Franziskanerinnen an unsere Gründerin Antonia Werr, die 1868 gestorben ist. „Gott ist die Wahrheit“ hat sie sich als Leitwort für unsere Gemeinschaft gewählt. Diese Wahrheit zu leben ist nicht einfach. Sie nimmt jede einzelne Schwester in die Pflicht und ist eine Herausforderung für uns als Gemeinschaft.
Mir kommen Worte Antonia Werrs aus ihrem Testament in den Sinn:
„Ferne sei … von Euch jede Art der Verstellung und Heuchelei. … Nie … spreche Euer Mund andere Worte als die, welche auch Euer Herz spricht. Und … redet frei, ohne Menschenfurcht, wie Ihr es vor Gott um der Wahrheit willen zu thun schuldig seid. … Schweiget nie aus Menschenfurcht, wenn Euch die Klugheit, wie Euere Pflicht zum Reden auffordert, um Böses zu verhüten. Saget aber auch nie die Wahrheit in einer Art, daß Ihr darüber den Ausspruch des Herrn vergeßt: ‘Lernet von mir, denn ich bin sanftmüthig und demüthig von Herzen.“ (Archiv Kloster Oberzell, Werr, Hausordnung, 9-10.)