Was stimmt denn nun? – Im Umgang mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen kommen Pädagog*innen oft ins Zweifeln, werden mit unterschiedlichen Erklärungen konfrontiert und stellen sich die Frage, was ist die Wahrheit.
Sankt Ludwig. So gut wie alle Menschen greift jede*r im Alltag immer einmal zur sogenannten kleinen Notlüge. Um sich einen Vorteil zu verschaffen, das Selbstbild zu schützen oder um das Gegenüber nicht zu verletzen, wird in guter Absicht hin und wieder die Wahrheit verdreht. So bestätigen wir, dass ein Geburtstagsgeschenk gefällt oder die neue Bluse einer Freundin wirklich hübsch ist, obwohl wir eigentlich anders empfinden. Aber: die Wahrheit könnte weh tun und wir wollen unser Gegenüber nicht verletzen. Vielleicht wollen wir auch eine Schwäche nicht zugeben oder einen Fehler verbergen.
Wie weh aber muss die Wahrheit tun, wenn ein Kind in unzumutbaren häuslichen und familiären Situationen aufwächst? Wenn Kinder Missbrauch oder Gewalt durch nahe Bindungspersonen erfahren mussten? Wenn Kinder lange Zeit niemanden hatten, der an sie glaubte, der sie förderte, liebte undunterstützte? Wenn die Wahrheit für die Seele nicht zu ertragen ist und man eine eigene Wahrheit braucht, um die Vergangenheit zu bewältigen? Fantasie und Geschichten, mit denen Kinder diese Realität verändern, können eine Möglichkeit sein, traumatische Umstände zu bewältigen und sie in die eigene Realität zu integrieren. Wenn das Selbstwertgefühl stark gelitten hat und Kinder keine Möglichkeit haben, ihre Selbstwirksamkeit zu erleben, flüchten einige in ihre Fantasie. Sie berichten von vielen Freundschaften, in denen sie anerkannt und wichtig sind, um der Einsamkeit zu entfliehen oder von Erfolgen in Hobbys und Schule, um Bestätigung zu finden. Die Flucht in die Fantasie kann für ihre Lebensbewältigung hilfreich sein.
Man kennt dieses Verhalten auch von kleinen Kindern. Sie erfinden oft einen imaginären Spielgefährten oder einen Meinungsverstärker, der in diesem Alter zuverlässiger, hilfreicher uns praktischer als ein realer Freund sein kann. Ein imaginärer Freund kann eine fantasievolle Strategie sein, mit den Herausforderungen des Lebens oder den eigenen Gefühlen umzugehen. Studien zeigen, dass Kinder, die über einen solchen immaginären inneren Helfer verfügen, oft sogar psychisch stabiler sind als andere Kinder. Wenn diese Strategie also bei kleinen Kindern hilfreich ist, gibt es aus traumapädagogischer Sicht eine Menge guter Gründe, dass auch Jugendliche ihre eigene Wahrheit entwickeln, um gesehen und versorgt zu werden, ihr Selbstbild zu stärken oder ihre Identitäten zu entwickeln.
Nicht immer können Menschen auf reale Gegebenheiten zurückgreifen, oft geht Wahrheit verloren. Als Folge von Traumatisierungen kann es zu schwerwiegenden Wahrnehmungsveränderungen kommen wie beispielsweise Amnesien und Dissoziationen. So kann das Opfer eines Gewaltverbrechens sich manchmal nicht mehr an die erfahrenen Gewalttaten erinnern, weil sich der Körper vor den entsetzlichen Wahrnehmungen schützt und die Geschehnisse aus der Wahrnehmung ausschaltet. Was bleibt sind beispielsweise bruchstückhafte Erinnerungen oder einzelne Sinneseindrücke, die es oft schwierig machen, die ‚Wahrheit‘ chronologisch zu rekonstruieren. Mit therapeutischer Unterstützung können Betroffene die zersplittert abgelegten Bilder, Sinneseindrücke, Gefühle oder Überzeugungen verbinden. So kann das Gehirn diese zusammengefügte Information abspeichern, als Vergangenheit archivieren und in die persönliche Lebensgeschichte einordnen. Das ist ein wichtiger Schritt für die Verarbeitung traumatischer Erlebnisse.
Was ist aber überhaupt die Wahrheit?
Nach dem Duden ist der Begriff ‘Wahrheit’ zu definieren als Übereinstimmung einer Aussage mit der Sache, dem Sachverhalt oder der Sachlage, über die sie gemacht wird. Geht man von der Theorie des Konstruktivismus aus, ist Wahrheit stets subjektiv. Menschen nehmen die Welt immer in ihrer eigenen Konstruktion wahr. Wir hören, sehen, riechen, tasten, schmecken, denken, empfinden und erleben auf der Grundlage der Erfahrungen, die wir in unserem Leben bis dahin gemacht haben.
Das, was wir wahrnehmen, wird in unserem Gehirn verarbeitet. Zunächst sind diese Wahrnehmungen jedoch ohne bedeutungshafte Informationen angereichert. Erst wenn das Gehirn einen Abgleich mit unserem Vorwissen und unseren Vorerfahrungen durchführt und diese Wahrnehmungen einordnet, werden Bedeutungen erzeugt. Das besagt, dass die Wirklichkeit, in der wir Menschen leben, eine Konstruktion des Gehirns ist. Die menschlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten formen die Wirklichkeit, die zusätzlich durch Vorerfahrungen und Sozialisation geprägt ist. Dieselbe Begegnung mit einem Hund kann entweder als bedrohlich oder erfreulich wahrgenommen werden. Die von Menschen empfundene Wahrheit ist immer subjektiv.
Karin Strempel, Juliane Hübner,
Psychologinnen im Antonia-Werr-Zentrum