Der Wohnverbund Berscheba zehn Jahre nach dem Großbrand

Eine ehemalige Bewohnerin schildert für uns ihre Erinnerungen an die Brandnacht in Würzburg.

 

Würzburg. Vom energischen Klopfen an ihre Zimmertür ist Sophie damals aufgewacht. „Feuer, Feuer“, schrie ihre Mitbewohnerin. Auf dem Dachboden brannte es bereits lichterloh. „Da war alles orange“, erinnert sich Sophie, deren Namen wir geändert haben, da sie anonym bleiben möchte. Es war die Nacht zum 15. September 2011, als ein Großbrand in der Würzburger Altstadt an mehreren Gebäuden immensen Schaden anrichtete. Zehn Jahre ist das jetzt her. Sophie war damals Bewohnerin der sozialtherapeutischen Wohngemeinschaft Berscheba, eine Einrichtung für Frauen mit psychischen Beeinträchtigungen. Die 29-Jährige, die ihren Alltag heute mit Beruf und eigener Wohnung wieder völlig selbstbestimmt meistert, erinnert sich noch genau an die traumatische Nacht und erzählt, wie sie die Erlebnisse verarbeitet hat.

Den Bewohnerinnen des Wohnverbundes Berscheba war das Ausmaß des Brandes noch nicht bewusst als sie sich gegenseitig im Haus aufweckten. Eine der jungen Frauen klingelte die Ordensschwestern im Nachbarhaus wach. Als die Frauen das brennende Gebäude verließen, rückte bereits die Feuerwehr an. „Wir standen im Schlafanzug auf der Straße als die Mitarbeiterinnen aus dem Bereitschaftsdienst kamen“, erzählt Sophie. In der sozialtherapeutischen Wohngruppe der Oberzeller Franziskanerinnen leben psychisch erkrankte Frauen im Alter zwischen 17 und 30 Jahren. Sophie spricht heute offen und reflektiert von ihrer Geschichte, von der sozialen Phobie, die nach der Realschulzeit solche Ausmaße annahm, dass sie nur im Suizid einen Ausweg sah. Der Versuch scheiterte glücklicherweise, Sophie kam mit 18 Jahren in eine psychiatrische Klinik und fünf Monate später in die Wohngemeinschaft Berscheba. Sie sei erst skeptisch gewesen, gesteht sie. Mit sozialer Phobie in eine WG einzuziehen, schien ihr nicht gerade hilfreich. „Aber ich habe gespürt, dass hier ein guter Ort ist, dass hier Leute sind, die mir zuhören und mich so akzeptieren, wie ich bin.“

 Ich glaube, es war für viele Menschen schwierig, mit mir umzugehen.

Etwa fünf Jahre lebte Sophie im Wohnverbund, eine Zeit mit Höhen und Tiefen, aber mit einer steten Weiterentwicklung, wie die junge Frau betont. „Es hat sich angefühlt, als ob ich schiffbrüchig im Meer schwimmen würde. Aber da war ein Rettungsring, ein Weg und ich kam weiter. Manchmal kaum merklich, aber es ging immer aufwärts.“ Wenn ihr soziale Situationen zu viel wurden, habe sie sich früher im Zimmer versteckt oder sei weggelaufen und im Ringpark untergetaucht. „Ich hatte Angst, dass ich etwas falsch mache. Ich wollte nicht gesehen werden. Ich glaube, es war für viele Menschen schwierig, mit mir umzugehen.“

2021 09 02 Berscheba Brand Frauenkreis vorschauDieser Frauenkreis aus der Werkstatt des Künstlers Alexander Lauterbach versinnbildlicht den Zusammenhalt der Bewohnerinnen nach der Katastrophe. Auch die Töpferei litt unter den Folgen des Brandes.Was ihr letztlich half, war das Verständnis der Sozialpädagoginnen und Mitbewohnerinnen. „Niemand hat in Frage gestellt, wie schwer es für mich ist, mich zu zeigen.“ Von Fremden hörte sie bis dahin häufig Sätze wie „Trau Dich doch, du kannst das schon“. Das sei zwar gut gemeint gewesen, „aber man fühlt sich völlig unverstanden“. Einrichtungsleiterin Ute Berger habe immer ein ganz besonderes Gespür gehabt, verrät Sophie. Die Sozialpädagogin habe Grenzen erkannt, nicht versucht, sie zu etwas zu drängen und nach Lösungen gesucht. „Es war eine unheimlich wichtige Erfahrung für mich, in einer Gruppe sein zu können und anerkannt zu werden. Es war wirklich schwierig, aber es war unglaublich wichtig.“

Das sieht auch die Einrichtungsleiterin so. Sophie sei ein Beispiel dafür, wie wichtig es ist, Betroffenen die nötige Zeit auf dem Genesungsweg zu geben. Im Konzept von Berscheba gehe es sowohl um Einzelbegleitung, aber maßgeblich auch um den sozialtherapeutischen Erfahrungs- und Übungsraum der Gruppe. „Wir haben sie schon auch gefordert“, betont Ute Berger und schmunzelt. Ein weiterer wichtiger Faktor für die positive Entwicklung war die ambulante Psychotherapie.

Nach dem Brand in der Septembernacht 2011 sei die Gruppendynamik enorm gewesen, erinnert sich Sophie. „Wir haben uns unheimlich gebraucht, wir mussten uns austauschen und einfach zusammen sein.“ Der Zusammenhalt in der Gruppe habe gut getan. Die Erlebnisse der Brandnacht nahmen allerdings auch viel Raum in der Therapie ein, andere Themen mussten hinten anstehen. „Der Brand hat mich in meiner Therapie nicht zurückgeschmissen, aber er hat vieles verzögert“, beschreibt Sophie die Auswirkungen.

Hinzu kam die Stigmatisierung, mit der vor allem Trägerin und Mitarbeiterinnen konfrontiert wurden. Psychisch kranke Menschen wurden plötzlich mit Brandstiftung in Verbindung gebracht. Gerade in Internetforen ging es heftig zu. Diese Stigmatisierung fand nur in Nischen statt, wie Ute Berger betont, belastend war es dennoch. Aber: „Es gab auch viel Mitgefühl und Unterstützungsbereitschaft in der Bevölkerung.“ Viele der Bewohnerinnen haben in den Flammen ihr Hab und Gut verloren. Das Kloster Oberzell stellte Geld zur Verfügung: Kleidung, Hygieneartikel, Elektrogeräte, Möbel – alles musste neu angeschafft werden. Der Caritasladen öffnete am Tag nach dem Brand seine Türen außerhalb der normalen Öffnungszeiten für die Bewohnerinnen von Berscheba, damit sich jede das Wichtigste nehmen konnte. Es gab viele Kleiderspenden, ein Benefizkonzert und großzügige finanzielle Unterstützung von Firmen und Privatleuten. Die Hilfsbereitschaft vieler Würzburger berührte die Frauen, wie Ute Berger betont: „Die große Unterstützung hat uns unheimlich gut getan.“ Sophie erinnert sich an die Handschmeichler, Kreuze aus Olivenholz, die eine Frau den Bewohnerinnen schenkte. „Das liegt heute noch auf meinem Nachttisch.“

 

Hintergrund: Wohnverbund Berscheba und der Großbrand 2011

Der Wohnverbund Berscheba mit ambulanten und stationären Hilfen ist ein sozialtherapeutisches Wohn- und Begleitangebot für psychisch erkrankte junge Frauen. Trägerin sind die Oberzeller Franziskanerinnen. Mit sozialtherapeutischer Unterstützung und einem zuverlässigem Beziehungsangebot werden die jungen Frauen in der Einrichtung Schritt für Schritt an ein selbstbestimmtes und möglichst selbstständiges Leben heran geführt. Bei täglichen Gruppenaktivitäten in einer heilsamen Umgebung entdecken die Frauen ihre Ressourcen und lernen, mit den Auswirkungen ihrer Erkrankungen umzugehen. Wichtig ist es auch, berufliche Perspektiven zu entwickeln.

Das Feuer brach in der Nacht zum 15. September 2011 im Dachstuhl des Wohnverbundes aus und griff auf drei weitere Gebäude in der Peterpfarrgasse über, eine ganze Häuserzeile stand auf rund 100 Metern in Flammen. Betroffen waren neben dem Wohnverbund und dem Konvent Nazareth des Klosters Oberzell auch das Haus für Kinder St. Hildegard und die Fachakademie für Sozialpädagogik. 100 Kräfte der Berufsfeuerwehr und der Freiwilligen Feuerwehren aus Stadt und Landkreis Würzburg waren mit 22 Fahrzeugen und vier Drehleitern in den engen Gassen der Altstadt im Einsatz. Zahlreiche Rettungskräfte befanden sich in Bereitschaft. Vier Menschen wurden leicht verletzt. Geschätzter Gesamtschaden: 1,5 Millionen Euro. Die polizeilichen Ermittlungen wurden nach einiger Zeit eingestellt, die Brandursache ist bis heute ungeklärt. Drei Jahre dauerte die Sanierung der betroffenen Gebäude. Als erstes konnte 2014 der Kindergarten wieder einziehen, dann folgten der Wohnverbund Berscheba, der Schwesternkonvent des Klosters und die Fachakademie.