Antonia-Werr-Zentrum – Das Buch „Hey, ich bin normal“ ist im Mai erschienen. Eine der Redakteurinnen beschreibt Inhalte sowie die Zusammenarbeit und ihre Erfahrungen während der Entstehung.
Wir leben in einer Welt der Experten. Jede Talkshow lädt Experten ein. Geschieht ein Unglück, eine menschengemachte Katastrophe, für jedes Ereignis gibt es Experten, die sie uns erklären. Meist in einer wissenschaftlichen und teilnahmslosen Sprache. Wir Zuhörerinnen oder Zuschauer fühlen uns beruhigt und halten die Sache für handhabbar. Manche sprechen sogar schon von der Expertokratie statt von der Demokratie.
Expertenschaft
Das frisch im Beltz Juventa Verlag erschienene Buch „Hey, ich bin normal“ hingegen stellt den Begriff „Expertenschaft“ wie auch den Begriff „normal“ wieder vom Kopf auf die Füße und verleiht dem Wort einen ganz anderen Sinn. In dem Buch schreiben nämlich „Expertinnen für herausfordernde Lebensumstände“. Was sie den Leserinnen und Lesern zu sagen haben, ist keineswegs beruhigend. Denn hier geht es nicht um Wissenschaftlichkeit, sondern um Empathie. Die Expertinnen sind junge Frauen, die im Antonia-Werr-Zentrum, der heilpädagogisch-therapeutischen Einrichtung der Jugendhilfe in Sankt Ludwig, Mitglieder des Heimrates waren oder sind. Die jungen Frauen haben selbst lange in der stationären Einrichtung gelebt und berichten im Kapitel „Schlamassel“ über ihre herausfordernden Lebensumstände: Über das schwierige Zusammenleben mit psychisch kranken Eltern, über seelischen und körperlichen Missbrauch, über selbstverletzendes Verhalten. Sie berichten von innen und von außen. Von innen heißt aus ihrem unmittelbaren Erleben und von außen – als hätten sie Flügel und könnten von oben und außen fast unberührt auf die Dramen ihres Lebens schauen. Deshalb sind diese Texte nicht nur ergreifend, sondern auch durchdacht und klug. Diese Expertinnen haben sich nämlich mit sich selbst und ihren Erfahrungen auseinandergesetzt und dabei viel über sich und über ihre Umwelt erfahren. Das ist dank der Zusammenarbeit mit den „Profis“ gelungen: Sozialarbeiterinnen, Erzieherinnen und Therapeuten ist es zu verdanken, dass sie ein Wissen über Traumata und deren Folgen haben – denn traumatische Erfahrungen haben sie alle gemacht. Das geht so weit, dass der Artikel über die Pädagogik der Selbstbemächtigung von der Diplom-Pädagogin Wilma Weiß gemeinsam mit Katharina Vogel geschrieben wurde. Katharina Vogel ist eine der Expertinnen aus dem Heimrat. Der Text wie viele Artikel in dem Buch vermittelt Wissen über die Wirkungsweise von Traumata. Im konkreten Fall geht es um Übertragungen und Rückblenden und die Frage, wie sich die Funktionsweise des Gehirns nach langanhaltendem Stress verändert. Die Pädagogik der Selbstbemächtigung setzt Verstehen voraus, um sich besser selbst regulieren zu können, wenn Situationen alte traumatische Erfahrungen wieder wachrufen. Die Zusammenarbeit beim Schreiben des Textes geht auf Erfahrungen im Antonia-Werr-Zentrum zurück, wo Mädchen das Wissen über psychische Vorgänge an andere Mädchen vermittelten. Professionelles Wissen und Expertenschaft gehen so eine Verbindung ein, die den Mädchen und jungen Frauen die Chance auf Selbstbemächtigung, also auf ein selbstbestimmtes Leben eröffnen.
Selbstbestimmtheit
Die Idee eines selbstbestimmten Lebens ist aber nicht nur die Freiheit oder Befreiung von den Überfällen traumatischer Erfahrungen, die wie Heimsuchungen sind, sondern auch die Freiheit zu etwas. Es ist nicht nur die Frage, wie kann ich leben, sondern auch wie will ich leben. Hier geht es also auch um Teilhabe an politischen Prozessen. Auch das ist Selbstbemächtigung. Diese Art von Autonomie und Freiheit, und wer die Texte der Frauen liest, wird den emotionalen Elan dieser Begriffe finden, hat aber etwas Beunruhigendes. Und zwar im positiven Sinne. Denn in ihrem Wissen und Sich-Selbst-Verstehen, das sie so großzügig mit anderen Jugendlichen in ähnlichen Lagen teilen, liegt Spontanität und Selbstbewusstsein. Die Buchentstehung war eine unterhaltsame und lehrreiche Zeit. Als Redakteurin und in der Zusammenarbeit mit den Mädels lernt man, seine Vorstellungen von psychisch beschädigten „Heimkindern“ über den Haufen zu werfen. Da saßen keine Hilfsempfängerinnen gegenüber, denen man als „Otto Normalverbraucher“ den richtigen Weg zeigen muss, sondern selbstbewusste junge Frauen, die zwar beim Bearbeiten ihre Texte anvertrauten, die aber wirklich genau wissen wollten, wenn etwas abgeändert wurde.
Im Vorwort des Buches wird auf ein Grundprinzip der emanzipatorischen Pädagogik verwiesen, nämlich das wechselseitige Lernen. Die Autorinnen berufen sich dabei auf den italienischen Philosophen Antonio Gramsci, der im faschistischen Italien im Gefängnis starb. Er beschrieb das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler als ein „aktives Verhältnis wechselseitiger Beziehungen“, bei dem „jeder Lehrer immer auch Schüler oder jeder Schüler auch Lehrer ist.“ Dass die Mädchen einen solchen Austausch bereits gewohnt waren, liegt wohl am Antonia-Werr-Zentrum, in dem seit 50 Jahren ein würdevoller Umgang mit den anvertrauten Mädchen und jungen Frauen praktiziert wird. Das geht nur mit einer in diesen Jahrzehnten entwickelten Haltung. Wieder ist die Frage der Teilhabe, der Partizipation von entscheidender Bedeutung für die Haltung. Die Leiterin des Antonia-Werr-Zentrums, Anja Sauerer, schreibt dazu: „Gehört Partizipation schon zur gelebten Kultur der Einrichtung oder ist es sie nur in den Qualitätsgrundsätzen schön formuliert?“ Neben der Expertenschaft ist also Partizipation ein weiterer Begriff, den sich dieses Buch neu aneignet. „Partizipation“, schreibt Anja Sauerer weiter, „sollte die ganze Organisation durchdringen und sie braucht Zustimmung in der inneren Haltung auf allen Ebenen.“ Und wichtig noch, das sei nicht im hierarchischen Sinne gemeint, sondern „im Eröffnen von Entwicklungsräumen für die Mitarbeitende sowie für die uns anvertrauten Kinder und Jugendlichen.“
Was ist normal?
Ein dritter Begriff, der in diesem Buch befreiend anders ausgelegt wird, ist „normal“. Das klingt schon im Titel mit und ist Ermutigung für alle, die sich ausgegrenzt fühlen und zumeist auch ausgegrenzt werden, weil sie gegen eine Form von Norm verstoßen. Hier schlägt das Buch nicht nur seinen Leserinnen und Lesern, die mit der Jugendhilfe verknüpft sind, eine Bresche, sondern eine hinein in die ganze Gesellschaft. Heute, da jede und jeder seines Glückes Schmied ist, ist jeder auch auf sich selbst zurückgeworfen. Lebensumstände, Verhältnisse, die Glück oder Unglück des Einzelnen bedingen, sind nicht mehr der Rede wert. Wer scheitert, gilt als selbst verantwortlich. Mit ihrem Anspruch „Hey, ich bin normal“ formulieren die Autorinnen einen ganz anderen Begriff von Normalität, bei dem Scheitern, Rückschläge, das Auf und Ab des Lebens ebenso normal sind wie die Selbstbehauptung und das Bestehen auf Teilhabe essentieller Teil sind.
Das Buch richtet sich in erster Linie an junge Menschen, die herausfordernde Lebenslagen bewältigen müssen, und an deren professionelle Begleiterinnen und Begleiter. Tatsächlich ist dies Buch aber auch ein überwältigendes Plädoyer für eine inklusive Gesellschaft, die Unterschiedlichkeit aushält und mit demokratischen Regeln bewältigt. Dass man in solche Prozesse viel mehr vertrauen kann, zeigt dieses Buch. Was Anja Sauerer schreibt, sollte man auch auf die verängstigten Debatten, die in Deutschland geführt werden, übertragen: „Mein Vertrauen in die Mädchen ist immer größer geworden, größer als ich anfangs vermutet oder zugelassen hatte. Die Erfahrungen im Miteinander haben mich gelehrt und gestärkt, auf die Fähigkeiten und die Expertenschaft zu vertrauen.“
Katja Maurer