In den letzten Wochen war ich öfter allein mit dem Rad oder zu Fuß in der Natur unterwegs. Öfter begegnete ich dabei anderen Spaziergängern, die mir ebenfalls allein oder zu zweit entgegenkamen. Manchmal schnappte ich im Vorbeilaufen oder -fahren ein paar Wortfetzen ihrer Unterhaltung auf. Meist es waren Sorgen: „Was meinst Du, wie lange die Ausgangsbeschränkungen noch aufrecht erhalten werden müssen? – „In meinem Betrieb herrscht jetzt schon drei Wochen Kurzarbeit, ich hoffe, ich verliere nicht meinen Job.“ – „Meine Hoffnung ist, dass wenigstens die Kinder bald wieder in die Schule gehen können“.
Die Emmauserzählung (Lukasevangelium Kapitel 24, 13-35) fängt ganz ähnlich an. Auch hier sind zwei Jünger unterwegs. Sie gehören nicht zum 12-er Apostelkreis. Nur einer wird mit dem Namen Kleopas vorgestellt. Sie gehen nach Emmaus, einem Ort, der ca. 24 km vor den Toren Jerusalems entfernt liegt (nach biblischer Angabe wären es umgerechnet nur 11,5 km). Aber das ist hier nicht so wichtig. Die längste Ostererzählung soll schließlich keine Fakten wiedergeben, sondern den Glauben an den Auferstandenen wecken.
Wie soll das erreicht werden? Der Evangelist erzählt eine symbolische Geschichte, die Aussagen darüber macht, wie Jesus als Christus erkannt und seine nachösterliche Gegenwart erfahren werden kann. Die Jünger erzählen sich, was passiert ist. Jesus geht mit ihnen. Der Auferstandene ist da, wo Menschen im Kontakt sind miteinander, wo sie sich austauschen und verstehen suchen, was um sie herum geschieht.
Der Auferstandene stellt Fragen. Er zeigt Interesse. Da können sie noch tiefer ausholen und ihre Gefühle zeigen: Sie bleiben traurig stehen. Dann teilen sie ihren Schmerz über den Verlust Jesu. Er war ein Prophet, mächtig in Wort und Tat. Ihre Hoffnungen auf Befreiung Israels von der römischen Besatzungsmacht lagen auf ihm. Nun ist er schon drei Tage tot. Und dennoch irritiert sie, was die Frauen erlebt und ihnen erzählt haben: das Grab sei leer gewesen, aber gesehen hätten sie Jesus nicht.
Dann stellt Jesus den größeren Zusammenhang her, ordnet die Geschehnisse ein in die Heilsgeschichte. Das scheint die beiden Jünger zu trösten und innerlich zu berühren. Denn sie drängen ihn, zu bleiben und sich mit ihnen zu Tisch zu legen. Und obwohl sie die Gastgeber sind, nimmt Jesus wie der Hausvater beim Essen das Brot, spricht das Dankgebet und gibt es ihnen. Da gehen ihnen die Augen auf und sie erkennen ihn. Das Verstehen der Schrift geht einher mit dem Öffnen der Augen und dem Erkennen des Auferstandenen.
Und sie teilen erneut miteinander, wie es ihnen nun mit Jesus ging: Dass ihnen das Herz brannte, als er unterwegs mit ihnen redete und ihnen den Sinn der Schrift erschloss. Ihre Erfahrung drängt sie weiterzugeben, was ihnen widerfahren ist. So wird der Glaube an den auferstandenen Jesus nachösterlich weitergegeben: Erzählend, Zeugnis gebend und indem das Mahl immer mehr zum Erkennungszeichen der neuen Bewegung wird, die sich von Jerusalem aus um Petrus und in Galiläa um andere Apostel herum sich ausbreitet.
Viele Gespräche, die ich in den letzten Tagen mit Schwestern in unseren drei Regionen in Deutschland, Südafrika und in den USA am Telefon geführt habe, drehen sich um die Frage, ob die Konvente in der von Corona geprägten Zeit Eucharistie feiern können. Die einen fühlen sich privilegiert, weil sie einen Weg gefunden haben unter Ausschluss der Öffentlichkeit weiterhin Mahl halten zu können; andere leiden und fühlen sich ausgeschlossen. Manche Schwestern zählen jeden Tag, an dem sie nicht zur Kommunion gehen können. Andere erfreuen sich an den Fernsehgottesdiensten, auch wenn er die aktive Mitfeier in der Kirche nicht ersetzen kann.
Auf diesem Hintergrund fällt es natürlich schwer, dass wir uns auch im Kloster noch länger auf eine Zeit eucharistischen Fastens verpflichten müssen. Schließlich ist und bleibt die Eucharistie das zentrale Sakrament, das uns Jesus hinterlassen hat als Gedächtnisfeier an sein Leben, seinen Tod und seine Auferstehung. Ohne diese zentrale Feier in ihrer Bedeutung zu relativieren, möchte ich einladen und ermutigen, in der eucharistiefreien Zeit den Blick zu weiten auf andere Zeichen und Sakramente der Gegenwart Gottes.
Denn die Emmauserzählung, diese längste Ostergeschichte im Neuen Testament, spielt ja nicht im Tempel, nicht am heiligen Ort, sondern an ganz normalen Alltagsorten. Es ist die Rede vom Weg, vom Unterwegssein, von einem Haus in Emmaus, wahrscheinlich ihrem Zuhause. Das Brotbrechen findet nicht am Altar statt, sondern am heimischen Esstisch. Priester sind ebenfalls nicht vorhanden.
Bevor er das letzte Abendmahl feierte, hat Jesus unzählige Essenszeiten mit den Menschen verbracht. Bei Reichen ist er genauso eingekehrt wie bei Zöllnern und Sündern. Einen Fresser und Säufer hat man ihn genannt. Diese Versammlungen bei Tisch, das Essen miteinander fehlt uns jetzt vielerorts in unserer Gemeinschaft. Entweder wir sitzen so weit in den Konventen voneinander entfernt, dass man sich kaum noch unterhalten kann oder wir müssen – wie die Schwestern in den Alten- und Pflegeheimen – allein auf dem Zimmer essen.
Es ist gut zu spüren, was uns fehlt, wenn wir darauf verzichten müssen. Es ist noch besser, miteinander darüber ins Gespräch zu kommen, also nicht nur zu jammern, sondern wirklich voneinander erfahren zu wollen, wie es uns geht. Ein Geschenk ist es, wenn wir das, was um uns oder in uns geschieht, in Verbindung bringen können mit dem Glauben an Jesus Christus. Was will er uns damit sagen? Was sollen wir noch besser verstehen?
Der Auferstandene ist den Jüngern und Jüngerinnen nicht in der Synagoge erschienen, sondern an unbedeutenden Orten. Am leeren Grab. In Galiläa, in ihrem Alltag. Auf dem Weg nach Emmaus oder bei Paulus auf dem Weg nach Damaskus. Immer und überall können wir mit ihm verbunden sein und ihm begegnen. Auf dem Gang, im Garten, auf der Parkbank, am Radweg, in den eigenen vier Wänden. Wir könnten also versuchen, die Spuren seiner Gegenwart im Alltag neu zu entdecken.
Das Christentum ist eine Erzähl- und Erinnerungsreligion. Es lebt von Sakramenten. Von Worten und Zeichen, die uns die Wirklichkeit der Auferstehung und bleibende Präsenz Jesu Christi deuten. Neben den sieben Sakramenten der Kirche, die uns weltweit mit allen Katholiken und Katholikinnen verbinden, gibt es aber auch Sakramente der Liebe Gottes im Leben eines und einer jeden Einzelnen von uns.
Leonardo Boff, der große Befreiungstheologe aus Brasilien, spricht vom Sakrament gemeinsam genutzten Wasserbecher in einer Familie oder vom letzten Zigarrenstummel seines Vaters, den er aufgehoben hat. Bei mir hat der Frühjahrsputz wieder ein sprechendes Symbol meiner Familiengeschichte zutage gefördert: Einen roten Plastikbecher mit Heinzelmännchen darauf, den ich als Kind benutzte. Als ich nach dem Abitur von zuhause auszog, nahm ich ihn mit. Er steht für den Platz am Tisch meiner Familie, den ich von Kindheit an hatte. Heute nutze ich ihn beim Pilgern, weil er leicht ist und nicht kaputt geht.
Ein Sakrament für meine Berufung zum Ordensleben ist das Rufen des Waldkauzes, den man manchmal in stillen Nächten hört. Er erinnert mich an meine längste Nacht, vielleicht meine Ölbergsnacht, als ich einige Monate zusammen mit Sr. Christina vor unserer Ewigen Profess zu Fuß von Greccio nach Assisi pilgerte. In den Abruzzen hatten wir uns so verlaufen, dass wir in den Bergen übernachten mussten. Die Nacht im Wald mit allen Ängsten und Sorgen, begleitet vom wandernden Mond und dem Rufen eines Waldkauzes war für mich der eigentliche Ort und Moment meiner Lebenshingabe an Gott, lange bevor ich in unserer Klosterkirche meine Profess ablegte und hier ausgestreckt vor dem Altar lag.
Was sind Eure Erinnerungsstücke und –fetzen an Eure Berufung, an die Liebe Gottes, die sich durch Euer Leben zieht? Fotos von Eltern und Geschwistern, ein Kreuz, ein bestimmtes Jesuskind vielleicht, Briefe, geistliche Tagebücher; für manche sind es die Türme von Oberzell, die sie erinnern an ihren Platz in diesem Kloster, das Läuten der Glocken oder eine bestimmte Begegnung mit jemanden, die alles verändert hat.
Was können wir in der Rückschau einmal über die Coronazeit aussagen? Wie wird sie unseren Glauben verändert haben? Wie werden die Gegenwart des Auferstandenen erfahren haben in dieser Zeit? Wie wird sich Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden weiter gestalten, auch wenn die Gotteshäuser an den höchsten christlichen Feiertagen geschlossen waren? Liturgisch gesehen geht es eigentlich gar nicht, dass Menschen von der Eucharistie und Kommunion ausgeschlossen werden. Dass Gottesdienste hinter verschlossenen Türen stattfinden. Das Volk Gottes ist ein wesentlicher Teil des Gedächtnismahles. Das Herrenmahl wurde zunächst in kleinen Hauskirchen gefeiert, bevor es mit der Zeit immer mehr Vorschriften gab wie geweihte Altäre und Priester.
Sakramente sind Symbole, die in Zeichen und Wort die bleibende Gegenwart Jesu Christi veranschaulichen. Sie sind gratis, aber nie umsonst, wie Ottmar Fuchs es ausdrückt. So könnten wir den Abstand, den wir zur Zeit zwischen uns lassen müssen, damit möglichst keine Tröpfen übertragen werden, positiv umdeuten und uns bewusst machen: Hier zwischen uns hat noch der Auferstandene Platz. Er ist immer und überall da, wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind.
Ich erlebe in diesen Tagen ermutigende Beispiele, wie sich Christen Ostern nicht nehmen lassen. Die Leute kommen tagsüber weiter in die Kirchen. Sie singen Halleluja und Osterlieder. Sie schreiben mit Kreide die Botschaft der Auferstehung auf die Straßen und Radwege. Sie halten zuhause bewusst Agape, brechen Brot und teilen Wein. Sie zünden Kerzen an und stellen sie in die Fenster. Sie rufen sich an. Sie schreiben sich Briefe oder WhatsApp-Nachrichten. Sie spenden auch weiterhin für Menschen in Not. Sie gehen zum Dienst und pflegen Kranke. Sie setzen sich einem Infektionsrisiko aus. Sie kaufen für alte Menschen Lebensmittel ein und stellen sie ihnen vor die Türe. Nicht alle nennen sich Christen. Aber sie stehen auf. Gegen die Macht des Todes. Sie sind Zeugen und Zeuginnen der österlichen Hoffnung. Aber schon Karl Rahner sagte, der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein, einer, der etwas erfahren hat, oder er wird nicht mehr sein.
Vielleicht wird man eines Tages diese Geschichten der neuartigen Begegnung erzählen, Begegnungen, die vielleicht seltener sind, aber dafür tiefer, ehrlicher und herzlicher. Und vielleicht werden wir dann rückblickend sagen: Auch in Corona-Zeiten ist der Osterglaube nicht gestorben. Im Gegenteil: Er feierte fröhliche Urständ.
Sr. Katharina Ganz
Generaloberin