Die evangelisch geprägte „Gruppe Bissinger“ verabschiedet sich von Haus Klara – In mehr als 70 Treffen seit 1981 Stille und Geborgenheit in diesem Haus erfahren – Dank für jahrzehntelange Gastfeundschaft.
Wir haben gezählt – und waren überrascht: Über 70 Mal haben wir uns nun im Haus Klara in Oberzell getroffen. Seit das Haus 1981 als Exerzitien- und Bildungshaus eröffnet wurde, waren wir in der Regel zweimal jährlich hier zu Gast. Als „Gruppe Bissinger“ wurden wir bei den Anmeldungen geführt. Fritz Bissinger, früherer Leiter des Kaiser-Verlages, hat uns damals in Verbindung gebracht mit der Leitung von Haus Klara. Die „Gruppe Bissinger“ blieben wir auch über seinen Tod im Jahr 2007 hinaus.
Wir sind ein evangelisch geprägter Kreis von anfangs über 20 Männern und Frauen; überwiegend Nichttheologen, aber engagiert in der Kirche und ihr in kritischer Solidarität verbunden. Unsere geistlichen Wurzeln gründen in der evangelischen Laienbruderschaft „Offener Ring“. Ihr Gründer Georg Flemmig war Lehrer und Rektor der Stadtschule in der hessischen Stadt Schlüchtern und später Ehrenbürger dieser Stadt – ein belesener, vom Humanismus und evangelischem Christentum geprägter Mensch mit starker persönlicher Ausstrahlung. Er war Mitbegründer der 1920 entstandenen Neuwerk-Bewegung, einer sowohl im religiösen Sozialismus verwurzelten als auch stark von der Theologie Karl Barths beeinflussten Jugendbewegung. Sie stand in gewisser Distanz zur als einseitig reaktionär empfundenen Haltung der evangelischen Amtskirche dieser Zeit. Georg Flemmig rief im Jahre 1920 die ersten Brüder zu einer, wie er im Glauben hoffte, „unzerbrechlichen Herzens- und Lebensgemeinschaft“ zusammen, die sich in ihrem alltäglichen Engagement an der angebrochenen und künftigen Gottesherrschaft orientieren sollte. Als sich Flemmigs Freund Otto Bruder wegen der Judenverfolgungen des Nationalsozialismus in der Schweiz niederließ, sammelte dieser einen Kreis von Studenten und Lehrern um sich, aus dem 1940 der Schweizer Zweig des Offenen Ringes hervorging. Dieser zählt heute mit dem deutschen Zweig zusammen etwa 300 Mitglieder; überwiegend Ehepaare, aber auch Einzelpersonen. Sie tragen einen offenen Ring als gemeinsamen Ausdruck der Offenheit für Christus und den Dienst an der Welt. Vertreten war der Offene Ring nicht nur in der Schweiz und Westdeutschland; auch in der damaligen DDR sammelten sich evangelische Christinnen und Christen im Offenen Ring.
Da die Glieder des Offenen Ringes nicht an einem Ort gemeinsam leben, sondern durch Ehe und Beruf in die Struktur unserer Zeit verflochten sind, sammeln sie sich zur Ausrichtung auf ihren Auftrag in regelmäßigen Zusammenkünften durch Bibelarbeit und Fürbitte, durch seelsorgerlichen Zuspruch, partnerschaftliches Durchdenken von Lebensfragen und gemeinsames Feiern. Sich den Aufgaben der heutigen Zeit zu stellen und Verantwortung zu übernehmen in Kirche und Gesellschaft, einzustehen für die Erneuerung der Kirche durch den Heiligen Geist, für die Überwindung ihrer Spaltungen und eine stärkere Beanspruchung der Laien ist innerstes Anliegen der Bruderschaft.
Aus der Bruderschaft Offener Ring ist unsere „Gruppe Bissinger“ hervorgegangen. Wir verstehen uns als eine Gemeinschaft von Menschen, die nicht nur die Herrschaft Gottes am Ende der Zeiten erwarten, sondern angesichts dieser Perspektive in ihrem überschaubaren Lebens- und Wirkungskreis ein paar Zeichen der Hoffnung und Ermutigung setzen wollen.
Beschäftigung mit Theologie
Um uns dabei nicht in schwärmerischen Illusionen zu verlieren, sehen wir in der theologischen Arbeit an den Quellen des christlichen Glaubens eine unabdingbare und stete Aufgabe. Wir freuen uns, dass wir zu manchen Treffen theologische Lehrer einladen konnten, etwa die Professoren Rudolf Bohren (Heidelberg) oder Eduard Schweizer (Zürich). Ansonsten haben wir uns viel mit den Schriften zeitgenössischer Theologen beschäftigt, u.a. von Hans Küng („Credo“), Gerd Theißen („Die Religion der ersten Christen“, „Glaubenssätze“), Klaus-Peter Jörns („Notwendige Abschiede – Auf dem Weg zu einem glaubwürdigen Christentum“), sowie nicht zuletzt mit Schriften Dietrich Bonhoeffers.
Unvergesslich ist uns das erste gemeinsame Treffen nach dem Fall der Mauer mit den Schwestern und Brüdern des ostdeutschen Zweiges im April 1990. An diesem Wochenende war der Züricher Professor für Neues Testament, Dr. Eduard Schweizer, unser Gesprächspartner in Oberzell.
Weil unser Kreis im Lauf der Jahre immer kleiner geworden ist, heißt es für uns nach fast vier Jahrzehnten Abschied zu nehmen. Nicht nur von Haus Klara, sondern Abschied zu nehmen insbesondere von der Oberzeller Schwesternschaft. Viele Namen werden uns in guter Erinnerung bleiben. Stellvertretend seien einige genannt: die Schwestern Hardwig und Reinlinde, Hermingard, Edgardis und Eusigna und nicht zuletzt Schwester Katharina Ganz, derzeitige Generaloberin der Dienerinnen der heiligen Kindheit Jesu OSF.
Gastfreundschaft genossen
Bewahren werden wir uns auch, was für uns den Geist von Kloster Oberzell ausmacht: Ein evangelisch geprägter Kreis von Männern und Frauen wurde vorbehaltlos an- und aufgenommen. Wir konnten die Stille und die Geborgenheit in diesem Haus erfahren. Wir haben gespürt: in Oberzell lässt sichetwas finden, was im lauten Alltag so leicht verloren geht und doch für ein gutes Leben wichtig ist: Einkehr, zu sich selbst und zu Gott kommen.
Abschied ist nun zu nehmen. Die Redewendung macht es deutlich: Abschied nehmen ist etwas Aktives. Nicht passiv Abschied erleiden oder erdulden. Abschied ist zu nehmen, damit der Rückblick nicht lähmt, sondern neue Kräfte freisetzt.
Dem alten Lied aus dem 15. Jahrhundert: „Ich komm – weiß nit, woher. Ich geh – weiß nit, wohin. Mich wundert, dass ich fröhlich bin.“ setzen wir, die mittlerweile alt Gewordenen, deshalb im Vertrauen auf die neue Welt Gottes das neue Lied entgegen: „Ich komm – weiß wohl, woher. Ich geh – weiß wohl, wohin. Mich wundert, dass ich traurig bin.“
So nehmen wir Abschied und danken Ihnen für Ihre Gastfreundschaft, für Ihr Interesse und Anteilnehmen an unserer kleinen Gruppe. Bei der Verwirklichung Ihres Auftrages wünschen wir Ihnen von Herzen Gottes Segen.
Wolfgang Altpeter