Ambulant Betreutes Wohnen: Vertrauen neu lernen

Aktion Mensch gewährt Zuschuss von 300.000 Euro für den Aufbau eines neuen Angebots
Bewohnerinnen schildern, wie sie im Ambulant Betreuten Wohnen im Haus Antonia Werr wieder in die Selbständigkeit finden

Sich akzeptieren und wieder Vertrauen können – anderen Menschen und sich selbst: Das wünschen sich die Frauen, die derzeit im Ambulant Betreuten Wohnen (ABW) des Wohnverbundes Berscheba in Würzburg leben. Es ist eine neue und besondere Form von ABW, weil es nicht nur sozialpädagogische Begleitung beinhaltet, sondern auch Wohnraum und eine Gemeinschaft mit anderen Bewohnerinnen anbietet. Das neue traumasensible Konzept, mit dem die Oberzeller Franziskanerinnen vor einem Jahr starteten, hat auch die Aktion Mensch überzeugt, weshalb die Organisation eine Förderung von 300.000 Euro zur Anschubfinanzierung bewilligt hat. Zum einjährigen Bestehen schildern die Bewohnerinnen selbst, wie ihnen das Ambulant Betreute Wohnen im Haus Antonia Werr dabei hilft, wieder in die Selbständigkeit zu finden.

Ambulant Betreutes Wohnen: in der Regel bedeutet das, dass eine Sozialpädagogin/ein Sozialpädagoge die Klientin/den Klienten in regelmäßigen Abständen in deren/dessen eigenen Wohnung besucht und Unterstützung in vielen Lebensbereichen anbietet. Den Frauen, die derzeit im ABW im Haus Antonia Werr leben, war das in ihrer jeweiligen Lebenssituation zu wenig. Die Alternative, eine sozialtherapeutische Wohneinrichtung, schien ihnen wiederum zu viel Struktur und Unterstützung. Das traumasensible ABW der Oberzeller Franziskanerinnen schließt die Lücke zwischen diesen beiden Möglichkeiten. Es ist „eine Art Zwischending“, wie es die Frauen selbst beschreiben. Die derzeit acht Bewohnerinnen zwischen 21 und 41 Jahren erzählen von ihren Herausforderungen, von Angstzuständen und sozialen Phobien. Zugleich sind ihre Offenheit, ihr Mut, ihre Wünsche und ihre Ziele beeindruckend. Da sie anonym bleiben möchten, haben wir ihre Namen geändert.

Fast alle haben bereits Klinikaufenthalte wegen psychischer Erkrankung hinter sich. Einige der Frauen lebten zuvor in der Wohngemeinschaft Berscheba, einer besonderen Wohnform für junge Frauen, die von seelischer Behinderung bedroht oder betroffen sind. Das ABW ist dem Wohnverbund zugeordnet. Ella (24) zum Beispiel gehörte gut zwei Jahre zur Wohngemeinschaft Berscheba. Sie war durchaus bereit für mehr Selbstständigkeit. „Aber ich kann noch nicht alleine leben“, sagt sie und betont, dass das neue ABW deshalb perfekt für sie war.

Ich wusste nicht wohin, wo ist mein Platz, wo finde ich Hilfe?
Letztlich war mir sogar egal, was mit mir passiert.

Trotz teils wirklich schwieriger und traumatisierender Erlebnisse in ihrer Kindheit oder Jugend gingen die jungen Frauen zunächst alle ihren Weg, schafften Schulabschluss, Ausbildung oder gar Studium, lebten teilweise alleine in eigener Wohnung – bis es eben nicht mehr ging. Marie zum Beispiel brach ihr Studium ab und suchte sich einen Minijob. „Ich hatte sogar noch eine gewisse Struktur, aber ich kam mit meinem Leben nicht mehr klar, war wie in einem Schwebe-Zustand.“ Sie habe gewusst, dass sie Hilfe brauchte. „Zu krank für die Arbeit, aber zu gesund für die Klinik“, beschreibt sie ihre Situation. „Ich wusste nicht wohin, wo ist mein Platz, wo finde ich Hilfe? Letztlich war mir sogar egal, was mit mir passiert.“ Sie schaute sich die Wohngemeinschaft Berscheba an und erfuhr im Gespräch mit Einrichtungsleiterin Ute Berger vom neuen Angebot ABW im Haus Antonia Werr. „Das ist eine wunderbare Lösung, ich bin immer noch so dankbar, dass ich hier einziehen durfte“, schwärmt Marie und ergänzt, dass fast immer jemand im Haus sei, dass sie genau die Unterstützung bekomme, die sie brauche und trotzdem ihre Autonomie behalten habe, die ihr so wichtig sei.

Soziale Kontakte fördern und fordern

Genau diese Zwischenlösung hatten Ute Berger (Leiterin des Wohnverbundes Berscheba) und Karola Herbert (Leiterin des Fachbereichs Frauen der Oberzeller Franziskanerinnen, dem der Wohnverbund angehört) im Sinn, als sie das Konzept des Ambulant Betreuten Wohnens im Haus Antonia Werr erarbeiteten: ein spezialisiertes Begleitangebot mit besonderem Blick auf Frauen, deren Erkrankung im Zusammenhang mit Traumatisierung in Kindheit und Jugend steht. „Ihr Unterstützungsbedarf liegt zwischen dem stationären und dem klassisch ambulanten Setting“, so Ute Berger.


In den kleinen WGs steht den Frauen eine Küche samt Sitzgruppe und Fernseher zur Verfügung.
Die Frauen leben in einer Wohngemeinschaft und versorgen sich selbst. Es gibt niederschwellige Kontaktangebote im Haus – ‚frau‘ wohnt ja Zimmer an Zimmer – und die Sozialpädagoginnen sind zeitnah und leicht zu erreichen. Begleitete Gruppenaktivitäten fordern und fördern soziale Kontakte – ein bedeutsamer Übungs- und Erfahrungsraum für Menschen mit psychischer Erkrankung. „Die Frauen können wieder ein Gefühl von Zugehörigkeit erleben, sie können lernen wieder zu vertrauen – sich selbst, anderen Menschen und dem Leben“, erklärt Ute Berger. Ein zuverlässiges, zeitnahes und niederschwelliges Beziehungsangebot der Mitarbeiterinnen und das Eingebundensein in eine Gemeinschaft schaffen haltgebende Strukturen, die für Menschen mit Traumafolgestörungen besonders bedeutsam sein können.

Warum vieles so schwer fällt, versucht Sophie zu erklären: „Viele von uns haben das Vertrauen komplett verloren, viele Verletzungen sind innerhalb der Familie entstanden. Wir müssen lernen, den Menschen zu vertrauen, die uns begleiten, aber auch innerhalb der Gruppe. Man ist hier füreinander da.“ Während sie spricht, senken ihre Mitbewohnerinnen die Köpfe, manche nicken, es fließen Tränen. Die Familie: schwieriges Thema. Die Wunden sitzen tief und die Schilderungen der jungen Frauen gehen unter die Haut: Sie erzählen von großem Leistungsdruck in ihrer Kindheit („wenn man nichts leistet, ist man nichts wert“), von Gleichgültigkeit („mir wurde gesagt, aus dir wird nie was“), von Depressionen und Alkoholproblemen bei den Eltern, von Vorwürfen und brüchigen Verhältnissen („das liegt in meiner Familie, dass man nicht miteinander redet“). Jule erzählt, dass ihre Mutter sich das Leben nahm als sie selbst gerade zwölf Jahre alt war. Dafür habe sie heute aber wieder guten Kontakt zu ihrem Vater. „Ich habe gelernt mich abzugrenzen.“


Gruppenaktivitäten wie gemeinsame Spieleabende fordern und fördern soziale Kontakte.
Die Schwierigkeiten und Herausforderungen zu beschreiben, die aus ihren Erlebnissen resultieren, fällt den Frauen ebenfalls nicht leicht. Sophie spricht von schlimmen Angstzuständen, Marie erzählt, dass sie dachte, sie sei eine Last. „Man will sich anderen Menschen nicht antun.“ Auch Jule hat Kontakte früher gemieden. Mit einzelnen Menschen oder gar innerhalb einer Gruppe zu reden, kostet die jungen Frauen Überwindung. Deshalb sind auch die Gruppenaktivitäten im ABW so wichtig. Ob gemeinsames Kochen und Abendessen, ein Spieleabend oder das Adventskranz-Binden: „Ich bin erst seit Ende September hier und merke jetzt schon, wie gut es mir tut, einfach nur regelmäßig Kontakt mit Menschen zu haben“, verrät Marie. Sie habe sich zuvor immer mehr isoliert.

Der Schritt ins ABW war allerdings kein leichter. Es erfordert durchaus Mut. Sophie zum Beispiel gesteht, dass sie Vorurteile hatte. „Es war meine größte Angst, ins Betreute Wohnen zu gehen. Ich dachte, da sind nur seltsame Leute. Dann kam ich hier her und habe festgestellt, das sind ganz normale und total liebenswerte Menschen, die einfach auch ihr Päckchen mit sich tragen.“ Dass sie im ABW im Haus Antonia Werr nun für einen Teil ihres Lebens begleitet wird, stärkt die junge Frau. Die mittlerweile strukturierten Tage und die Unterstützung durch die Sozialpädagoginnen geben ihr Halt. Sie würden nicht nur Vorschläge machen, sondern auch konkret helfen, mit zum Vorstellungsgespräch gehen oder Papierkram gemeinsam mit ihr ausfüllen, ergänzt Susanne. „Wenn ich jemanden brauche, ist jemand da. Die nehmen sich die Zeit. Da kann ich mich drauf verlassen.“


In der gemeinsamen Zeit mit den Bewohnerinnen packt Einrichtungsleiterin Ute Berger auch mal die Gitarre aus.
Für Ute Berger ist klar: „Der Einzug hier ist für viele unserer Bewohnerinnen ein großer Schritt in die Selbständigkeit – auch wenn es erstmal anders aussieht.“ Die Einrichtungsleiterin weiß, dass da letztlich alle hin wollen: „Ein eigenständiges Leben führen, in der Gewissheit, dass ich ein wertvoller Mensch bin und ein Leben, in dem ich mich traue, mich mit meinen Fähigkeiten und Begabungen einzubringen.“

Auf die Frage nach ihren Wünschen finden die acht Frauen selbst berührende Worte: „Ich wünsche mir, dass mein Gehirn irgendwann normal funktioniert. Dass ich in ein paar Jahren alleine wohnen kann ohne eine Vollkrise zu bekommen. Ich bin noch jung und möchte Spaß haben und etwas erleben. Auch wenn in der Gesellschaft so ein Leistungsdruck ist, will ich meinen eigenen Weg finden und mich selbst mit meinen Einschränkungen akzeptieren. Ich möchte auch gern herausfinden, wer ich bin. Das weiß ich nämlich nicht. Ich pass mich immer nur den Menschen an. Ich möchte wieder auf eigenen Beinen stehen und einen Beruf ausüben, der mir etwas gibt. Ich hoffe, dass das mit den Ängsten besser wird – dann wird alles andere auch einfacher. Ich wünsche mir, dass ich mir selbst mehr zutraue und, dass ich mich irgendwann einfach so akzeptieren kann wie ich bin.“

 

 

 

 

Hintergrund: Ambulant Betreutes Wohnen im Haus Antonia Werr

Im ABW werden volljährige psychisch erkrankte Frauen begleitet, deren Erkrankung meist im Zusammenhang mit Traumatisierung in Kindheit und Jugend steht. Die Frauen leben in einer Wohngemeinschaft und in Einzelapartments. Im Haus Antonia Werr stehen acht Zimmer in kleinen Wohneinheiten und zwei Apartments zur Verfügung. Beratungs- und Begegnungsräume sind ebenfalls im Gebäude. Im Rahmen des ABW können aber auch Frauen in der eigenen Wohnung im Stadtgebiet begleitet werden.

Trägerin sind die Oberzeller Franziskanerinnen, deren Gründerin Antonia Werr bereits im 19. Jahrhundert ihre ganze Kraft auf das Wohl und die Würde von Frauen in Not gerichtet hat. Der Fachbereich Frauen der Oberzeller Franziskanerinnen führt diesen Gründungsauftrag im Besonderen fort: Die Angebote der beiden Abteilungen „Hilfen für Frauen in Krisensituationen“ und „Eingliederungshilfe für psychisch kranke Frauen“ sind wichtige Anlaufstellen für Frauen in der Region Würzburg, die ihre Krisen- oder Notsituation aus eigener Kraft nicht mehr bewältigen können. Mit frauenspezifischer Unterstützung und Wohnangeboten werden sie ein Stück auf ihrem Lebensweg begleitet.

Das neue Konzept des traumasensiblen ABWs hat auch die Aktion Mensch überzeugt: Die Organisation bezuschusst die Personalkosten von Leitung und Verwaltung für den Aufbau des neuen Dienstes im Haus Antonia Werr mit insgesamt 300.000 Euro über einen Zeitraum von fünf Jahren.