Generaloberin Sr. Katharina über Veränderungen bei den Oberzeller Franziskanerinnen

Die Oberzeller Franziskanerinnen gestalten ihre Zukunft. Die ersten Beschlüsse aus dem Außerordentlichen Generalkapitel im Juni 2022 sind umgesetzt. Warum die Gemeinschaft 2022 vor einem Neuanfang steht und was das mit der Ordensgründerin Antonia Werr zu tun hat, schildert Generaloberin Sr. Dr. Katharina Ganz in ihrem Leitartikel der aktuellen Ausgabe des Klostermagazins LUPE, das gerade frisch aus der Druckerei gekommen ist.

Alles Große hat einmal klein angefangen.“ Mit dieser Überzeugung hatte Antonia Werr 1855 das sogenannte Schlösschen für ihren Anfang gemietet. Das Haus lag mitten in einem Gutshof, der vor der Säkularisation zur Prämonstratenserabtei Oberzell gehört hatte. Der vormalige Besitzer und Bankier, Joël Jakob Hirsch, hatte sich dieses frei stehende Haus im klassizistischen Stil errichten lassen. Nach dem Verkauf des Gutshofs an das Würzburger Juliusspital wurde das Areal von einem Pächter bewirtschaftet. Nach einigen Verhandlungen konnte Antonia Werr es für 115 Gulden mieten.

In den Augen der Gründerin war das Haus ideal: abgeschlossen und doch nah bei den Menschen, auf dem Land und in Stadtnähe, am Main gelegen und doch vor Überschwemmungen sicher; erreichbar und gleichzeitig abgelegen, geschützt und erhaben; der Eingang zugänglich und zugleich versteckt, das Innere übersichtlich und freundlich, die Ansicht verborgen, die Aussicht herrlich. Damit lag das Mietobjekt an einem ähnlich geeigneten Standort wie die Häuser der Schwestern vom Guten Hirten, die sich ebenfalls bevorzugt am Stadtrand niederließen. Auch sozial und kirchlich markierte Oberzell einen randständigen Ort, an dem es programmatisch darum ging, Menschen vom Rand in die Mitte zu stellen.

Eine Kehrseite des industriellen Aufschwungs war die Verarmung breiter Bevölkerungsanteile. Strafentlassene, Landstreicherinnen, Bettlerinnen sowie Prostituierte zählten zu den Randgruppen. Gesellschaftlich galten sie als unerwünscht, innerkirchlich wurden sie als Sünderinnen bezeichnet. Mit ihnen zu verkehren, ja mit ihnen zusammen zu leben, brachte die Helferinnen selbst in eine randständige Position. Sie wurden verdächtigt und riskierten ihren guten Ruf. Wer sich solidarisch an ihre Seite stellte, brach ein Tabu.

Kein Anfang ohne Risiko

Für Antonia Werr wurde dieser Weg zum Programm. Sie riskierte selbst zum Gespräch und Gespött der Leute zu werden. Um Frauen eine Stimme zu geben, die verstummt oder mundtot gemacht worden waren, wählte sie nicht die Macht des Wortes, sondern die Sprache des solidarischen Handelns.

In den Arbeitsanstalten und Zuchthäusern des 19. Jahrhunderts saßen die Verurteilten ihre Strafe ab, ohne wirklich die Chance einer Änderung und Besserung zu erhalten. An dieser Stelle setzte die Kritik der Würzburgerin an. Gefängnisse vernichteten noch den letzten Rest des Selbstbewusstseins und Ehrgefühls der Frauen und besiegelten ihre Diskriminierung. Waren sie vorher schon verdächtig und gemieden aufgrund ihres Lebenswandels, wurden sie durch die Inhaftierung erst recht zu Außenseiterinnen.

Antonia Werr sah die Notwendigkeit einer Übergangseinrichtung zwischen der Haft und der Rückführung in die Gesellschaft. So ein Zwischenort sollte Brückenfunktion ausüben zwischen dem Freiheitsentzug und dem Umgang mit der wiedererlangten Freiheit. Im Unterschied zu staatlichen Einrichtungen wollte sie ein Institut gründen, in dem der christliche Glaube so gelebt und erfahrbar wird, dass die Frauen von innen her stabilisiert und in die Lage gebracht würden, ihr Leben wieder in die Hand zu nehmen und neu auszurichten. Die „Rettungsanstalt“ war also wie ein Scharnier gedacht: Einerseits war die Einrichtung auf religiösem Fundament gegründet und kirchlich verortet, andererseits erfüllte sie einen staatlichen Auftrag und einen weltlichen Zweck.

Antonia Werr riskierte mit ihrem Anfang sich finanziell zu verschulden, setzte ihre Gesundheit aufs Spiel und nicht zuletzt ihren guten Ruf. Gleichzeitig trat sie mit ihrer Initiative aus dem Schatten der Unscheinbarkeit und kirchlichen Unbedeutsamkeit ans Licht der Öffentlichkeit und wurde sichtbar. Von ihrer inneren Erkenntnis geleitet, verließ sie den ihr zugewiesenen Platz und suchte sich ihren eigenen Ort. Sie tat dies nicht, indem sie sich in sich selbst zurückzog, sondern indem sie bewusst die an den Rand gedrängten Frauen aufsuchte. Die Bewegung des Aus-sich-Herausgehens führte sie pastoral zu den ehemals inhaftierten Frauen. Bei ihnen musste sich das Evangelium bewahrheiten, dass Neubeginn durch Umkehr und Verzeihung möglich ist.

Die Transformation geht weiter

Wie Antonia Werr vor 167 Jahren stehen wir Oberzeller Franziskanerinnen 2022 vor einem Neuanfang. Damals wie heute gilt es unseren Auftrag in die jeweilige Zeit hinein zu übersetzen und zu überlegen, wie wir auf die Bedürfnisse von Menschen – und in unserem Fall besonders von Frauen und Mädchen in benachteiligenden Lebenssituationen – reagieren können. Welche Ressourcen braucht es dazu? Was ist wesentlich? Was müssen wir loslassen?

Unsere Gemeinschaft wird zahlenmäßig kleiner. Manche Gebäude brauchen wir nicht mehr für unsere eigenen Zwecke. So haben wir im Juni bei einem Außerordentlichen Generalkapitel beschlossen, das Immobilienmanagement in einen unselbstständigen Eigenbetrieb unter dem Dach der Körperschaft des öffentlichen Rechtes auszulagern. Durch die organisatorischen Veränderungen soll die Generalleitung entlastet werden. Alle Arbeitsverträge bleiben unverändert bestehen. Eine Satzung und Stellenbeschreibung für die Leitung des Immobilienbetriebes regeln in Zukunft Zuständigkeiten, Aufgaben und Kompetenzen des Betriebes.

Kloster Oberzell weiterentwickeln

Für das Areal des Klosters Oberzell wird zunächst ein Gesamtnutzungskonzept entwickelt. Mit Hilfe einer Potentialanalyse werden wir schauen, wofür sich die einzelnen Gebäude eignen. Ein „Transformationsrat“ aus Schwestern, Mitarbeitenden und externen Fachleuten steuert und begleitet diesen Prozess. Oberzell soll ein geistlicher Ort bleiben, an dem wir Schwestern leben, beten und arbeiten.

Darüber hinaus wollen wir unser Areal weiter öffnen für Menschen, die hier wohnen und arbeiten. Das Gelände soll eine Einheit bleiben. Einzelne Gebäude werden nicht verkauft. Auch für die Liegenschaften und Häuser der Kongregation in Würzburg und an anderen Orten werden wir gezielt schauen, welche neuen Formen der Trägerschaft, Nutzungen oder Eigentumsverhältnisse angemessen oder notwendig sind.

Die existentielle Entwicklung unserer Gemeinschaft verlangt nach diesen einschneidenden Maßnahmen. Gleichzeitig birgt der Prozess neue Chancen. Unseren Sendungsauftrag zu sichern und weiterzuführen, ist uns ein zentrales Anliegen. Deshalb hat die Kongregation in den vergangenen Jahren auch das Haus Antonia Werr in Würzburg generalsaniert, obwohl nicht alle Kosten refinanziert werden und erhoffte kirchliche oder staatliche Förderungen ausgeblieben sind. Und mit dem Verfügungswohnraum für obdachlose Frauen setzen wir im St. Raphaelsheim in unmittelbarer Bahnhofsnähe in Würzburg weiter um, was Antonia Werr ein Herzensanliegen war: Frauen einen Ort zu geben und an ihrer Seite zu bleiben, Neuanfänge zu ermöglichen und selbst Risiken nicht zu scheuen. Ihr Motor war Weihnachten: Gott ist Mensch geworden und hat sich ganz klein in diese Welt begeben. Sollte uns das nicht Mut machen, selbst immer wieder ganz von vorne zu beginnen?